„Prokrastination“ ist eines dieser Modewörter, die vor 25 Jahren noch kaum jemand kannte und die heute in aller Munde sind. Auf Deutsch spricht man auch von „Aufschieberitis“: Wer prokrastiniert, schiebt seine Aufgaben vor sich her, statt sie zu erledigen. Morgen, morgen, nur nicht heute… Gearbeitet wird erst, wenn die Deadline so nahe ist, dass die Panik sich auch von der besten Netflix-Serie nicht mehr unterdrücken lässt.
Prokrastination ist gerade für Personen, die sich ihre Zeit selbst einteilen können, ein riesiges Problem. An Hochschulen beispielsweise wird von Studierenden, aber sicherlich auch von so manchem Professor prokrastiniert, was das Zeug hält. So mag es nicht überraschen, dass es sogar Anti-Prokrastinationskurse gibt, und in so manchem Kurs zum Zeitmanagement wird ausgiebig diskutiert, was man gegen Prokrastination tun kann.
Die Phasen des kreatives Problemlösens
Wer schon einmal in der Verlegenheit war, ein größeres Denkproblem lösen zu müssen, und dabei erfolgreich war, der kennt vermutlich die folgenden Phasen des kreativen Problemlösens (z.B. nach Graham Wallas: The Art of Thought):
- Vorbereitung (preparation): Man beschäftigt sich anfangs intensiv mit dem Thema – man denkt darüber nach, schmiedet Pläne, sammelt Informationen, probiert Ideen aus usw. Dabei stellt sich irgendwann heraus, dass die gewohnten Methoden nicht zum Ziel führen – man steckt fest.
- Inkubation (incubation): Die eigentliche Erkenntnis, die man sucht, lässt sich häufig durch bewusstes Nachdenken nicht erzwingen. Der Verstand benötigt Zeit, um das Problem umzustrukturieren – ein unbewusster Prozess, der nicht selten stattfindet, während man etwas gänzlich anderes tut.
- Erkenntnis (illumination): Irgendwann fällt der sprichwörtliche Groschen – die Erkenntnis trifft den Problemlöser nicht selten wie der sprichwörtliche Blitz aus heiterem Himmel.
- Überprüfung (verification): Nicht jede Idee, die man hat, ist auch wirklich eine brauchbare Lösung. Sie muss daher überprüft werden – sie wird überdacht, ausprobiert, diskutiert o.ä.
Nach meiner Erfahrung sind alle vier Schritte beim kreativen Problemlösen unumgänglich. Gerade Schritt 2 wird dabei bei planerisch veranlagten Menschen gerne vergessen: Man schreibt einfach in den Kalender „8:00-12:00: Problem X lösen“ und vergisst dabei, dass das so gar nicht funktioniert. Ja, man muss sich intensiv mit dem Problem beschäftigen, aber dann muss man loslassen und das Unterbewusstsein seine Arbeit tun lassen. Ob man in der Zeit spazierengeht (wie es erstaunlich viele berühmte Mathematiker getan haben), eine Raucherpause einlegt, mit den Kollegen oder Kommilitonen quatscht oder Tischfußball spielt, ein Nickerchen macht, Sport treibt oder den Abwasch erledigt, spielt dabei keine große Rolle. Wichtig ist nur, dass das Gehirn sich nicht übermäßig anstrengen muss, damit Ressourcen für das Lösen des Problems zur Verfügung stehen. Und nicht selten wird man dann irgendwann mit einem Heureka-Moment belohnt. Bei mir selbst ist dies beispielsweise oft morgens direkt nach dem Aufwachen der Fall – das Gehirn hat mein Problem vom Vortag sprichwörtlich im Schlaf gelöst. Nicht jede Idee, die dabei herauskommt, taugt auch etwas (dafür hat man dann ja Schritt 4), aber ohne die Inkubationspause gibt es gar nicht erst eine Idee.
Zurück zur Prokrastination
In einem TED-Talk erklärt Psychologe Adam Grant, dass die so gefürchtete Prokrastination in Wirklichkeit genau hier ihren Nutzen hat: Sie zwingt uns, die Pause einzulegen, die das Gehirn benötigt, um das Problem zu lösen. Als kreative Denker sind nach seiner Analyse vor allem solche Menschen erfolgreich, die ein Projekt zunächst intensiv starten, dann prokrastinieren und dann gegen Ende (z.B. zur Deadline) hin wieder Vollgas geben.
Natürlich gibt es dafür eine Reihe von unabdingbaren Voraussetzungen. Zunächst einmal bringt natürlich auch das intensivste Prokrastinieren nichts, wenn man es versäumt hat, sich zuvor intensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen. Und „intensiv“ ist hier wirklich das Zauberwort: Es genügt nicht, sich mal eben die Aufgabenstellung durchzulesen und dann vor den Fernseher zu fallen in der Erwartung, dass die Ideen dann schon kommen werden. Man muss mit der Fragestellung kämpfen, bis man guten Gewissens sagen kann: „Ich habe alles gemacht, was mir jetzt eingefallen ist“. Aber dann ist der richtige Zeitpunkt zum Prokrastinieren: dafür, etwas ganz anderes zu tun, damit das Unterbewusstsein seinen Job erledigen kann.
Ebenfalls wichtig ist es, die Prokrastination irgendwann zu beenden. Denn nicht selten gibt das Gehirn die neuen Ideen erst dann frei, wenn man wieder anfängt, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Und es muss ja auch noch genügend Zeit sein, um diesen Prozess zu wiederholen, falls die erste Idee nicht gleich der Gewinner ist.
Mir ist schon klar, dass es pathologische Fälle von Prokrastination gibt, bei denen die Betroffenen überhaupt nichts mehr fertig bekommen und dringend Hilfe benötigen. Aber die „kleine Prokrastination“, die ich selbst mir als Student immer wieder zum Vorwurf gemacht habe (Aufgabenblatt anfangen, nicht mehr weiterkommen, Minesweeper spielen, Aufgabenblatt kurz vor der Deadline doch noch lösen), ist in Wahrheit ein ziemlich cleverer Mechanismus unseres Gehirns, um uns dazu zu bringen, die dringend benötigte Denkpause einzulegen, die neue Erkenntnisse überhaupt erst ermöglicht.
Natürlich muss man das Ganze nicht „Prokrastination“ nennen, und natürlich kann man solche Pausen auch ganz bewusst im Tagesplan vorsehen. Es mag kein Problem sein, acht oder zehn Stunden am Stück Routineaufgaben nachzugehen. Aber wenn die eigene Tätigkeit darin besteht, neue Probleme zu lösen (oder beispielsweise neuen Stoff zu verstehen), dann sind Inkubationspausen unabdingbar. Man sollte sie nicht verteufeln, indem man sie als „Aufschieberitis“ schlechtredet, sondern sie ganz bewusst zu einem festen Teil des Tagesablaufs machen.