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Die Reading Challenge

Manchmal schweifen die Gedanken ja ab, kommen von Hölzchen auf Stöckchen und wenn man ganz viel Glück hat dabei sogar auf die eine oder andere verwertbare Beobachtung. Im heutigen Eintrag will ich mal einen solchen Gedankengang, der in einer Diskussion in einem Webforum seinen Anfang nahm und sich dann verselbständigt hat, in Form einer Satire wiedergeben – oder es zumindest versuchen…

Das erste Jahr

In den letzten Jahren sind ja sogenannte „Reading Challenges“ in Mode gekommen. In der einfachsten Form setzt sich ein Teilnehmer – nennen wir ihn mal Johnny – ein Jahresziel in Form von gelesenen Büchern, beispielsweise:

„Ich nehme mir vor, bis zum Ende des Jahres 50 Bücher zu lesen.“

Nun wird es niemanden, der sich mit der menschlichen Psyche beschäftigt, überraschen, dass das bloße Setzen eines solchen Ziels das Leseverhalten in mehr als nur einer Weise verändert. Natürlich könnte Johnny einfach mehr lesen und so dafür sorgen, dass er sein Leseziel locker schafft. Aber als echtes Kind seiner Zeit verwechselt Johnny schon bald das Messbare mit dem Eigentlichen.

So bemerkt Johnny schnell, dass es seinem Ziel nicht eben zuträglich war, als erstes Buch Thomas Pynchons „Mason & Dixon“ von seinem pile of shame zu nehmen. Der Wälzer hat 773 Seiten, und als Johnny sich nach 4 intensiven Lesewochen endlich hindurchgekämpft hat, wird ihm klar, dass er jetzt nur noch 48 Wochen für die verbleibenden 49 Bücher zur Verfügung hat. Er beschließt daher, sich künftig auf handlichere Werke zu konzentrieren, und fasst in den nächsten Wochen nichts mehr an, was mehr als 200 Seiten hat.

Am Ende des Jahres ist Johnny dann ein wenig unzufrieden. Ja, er hat seine 50 Bücher geschafft (gerade so), aber die meisten davon waren von Moritz Matthies, David Safier und Tommy Jaud – unterhaltsam, leicht zu lesen und vor allem nach spätestens 300 Seiten zu Ende. Wenn Johnny so darüber nachdenkt, war das eigentlich nicht das, was er sich vorgestellt hatte, als er sich der Reading Challenge gestellt hat. Damals hatte er seinen Freunden doch noch davon erzählt, wie er durch die Challenge seinen Horizont erweitern würde. Ja, vor seinem geistigen Auge hatte er sich schon als vielseitig gebildeten Menschen gesehen, der mit dem Inhalt seiner Bücherregale seine Gäste beeindrucken würde, zumal er auch mühelos über Gott und die Welt und vor allem die menschliche Natur würde philosophieren können. Nun also Tommy Jaud… irgendetwas musste da unterwegs schiefgegangen sein.

Das zweite Jahr

Johnny erkennt, dass es ein Fehler war, sich bei der Reading Challenge auf die Zahl der Bücher zu konzentrieren. Er hat im Web mit Leuten gechattet, die über 100 Bücher im Jahr lesen, wobei sich die meisten davon bei näherem Hinsehen als „Graphic Novels“ (das klingt vornehmer als „Comics“) entpuppen. Natürlich blickt Johnny verächtlich auf solche Dünnbrettbohrer hinab, aber beim Blick auf seine eigene Leseliste beschleicht ihn das ungute Gefühl, dass sie bei echten Literaten nur wenig besser ankommen würde.

Er gelobt daher Besserung. Und damit er diesmal keinen Grund mehr hat, einen dicken Bogen um Tolstois „Krieg und Frieden“ (1536 Seiten) zu machen, beschließt er, statt der Bücherzahl lieber eine Seitenzahl als Leseziel auszuloben. Er nimmt 250 Seiten als „typisches“ Buch an, multipliziert sie mit 50 und kommt so zum folgenden Ziel:

„Ich nehme mir vor, bis zum Ende des Jahres Bücher im Umfang von 12.500 Seiten zu lesen.“

Wobei… jetzt, wo er angefangen hat darüber nachzudenken, sind Bücher ja auch ganz unterschiedlich groß und ganz unterschiedlich eng bedruckt. Es gibt Bücher, auf denen fasst eine Seite mehr als das Doppelte dessen, was anderswo auf einer Seite zu lesen ist. Und schließlich geht es hier ja nicht darum, einfach nur so viele Seiten „Gregs Tagebuch“ wie möglich zu lesen, nicht wahr?

Also noch mehr Präzisierung, schließlich leben wir im Zeitalter der Digitalisierung! Johnny macht eine Testzählung, kommt bei einem typischen Buchformat auf 30 Zeilen pro Seite und 60 Zeichen pro Zeile und präzisiert sein Leseziel weiter:

„Ich nehme mir vor, bis zum Ende des Jahres Bücher im Umfang von 22.500.000 Zeichen zu lesen.“

Zwar muss er jetzt einiges an Buchführungsaufwand betreiben – er muss für jedes Buch, das er liest, die Zahl der Zeilen und der Zeichen pro Zeile ermitteln und alles in ein Spreadsheet-Programm eingeben, aber vernünftige Kennzahlen gibt es eben nicht zum Nulltarif. Zufrieden macht er sich ans Werk.

Leider merkt er auch in diesem Jahr, dass anspruchsvollere Werke wie David Mitchells „Cloud Atlas“, Umberto Ecos „Der Name der Rose“ oder gar James Joyces „Ulysses“ unberührt im Schrank stehen geblieben sind. Dafür hat er alle Harry-Potter-Bände gelesen sowie alles, was zur „Expanse“-Reihe bisher erschienen ist. Das ergab richtig viele Seiten und hat eine Menge Spaß gemacht. Aber von seinem Ziel, ein belesener Mann zu werden, ist er noch genauso weit entfernt wie zuvor.

Das dritte Jahr

Verärgert macht sich Johnny zwischen den Jahren daran, sein Bewertungsschema erneut zu überarbeiten. Dazu überlegt er sich, dass ein anspruchsvolles Buch mehr zählen sollte als ein anspruchsloses. Er entscheidet sich, bei der Bewertung der Bücher neben der Zeichenzahl künftig noch zwei andere Faktoren einfließen zu lassen:

  • Wie schwer ist das Buch zu lesen? Er vergibt für die Schwierigkeit einen Score zwischen 1 Punkt (für Kinder geeignet) und 5 Punkte (literarisch anspruchsvoll).
  • Welche Bedeutung hat das Buch? Gar nicht so leicht zu messen! Am Ende entscheidet sich Johnny für einen Score, mit dem er abzuschätzen versucht, welchen Wert wohl ein echter Literat dem Buch zuweisen würde – erneut zwischen 1 Punkt (Zeitverschwendung) und 5 Punkten (Pflichtlektüre).

Johnny beschließt, die Schwierigkeit mit 1/3 und Bedeutung mit 2/3 zu gewichten und kommt so zum folgenden Leseziel:

„Der Score eines Buches berechnet sich wie folgt:

Score = Seiten * Zeilen/Seite * Zeichen/Zeile * (Schwierigkeit + 2*Bedeutung) / 1.000

Ich nehme mir vor, bis zum Ende des Jahres einen Score von 200.000 Punkten zu erreichen.“

Nun ist Johnny wirklich zufrieden mit sich – er hat endlich alles, was ihm wichtig ist, in seine Kennzahl einfließen lassen. Ein Buch wie der „Ulysses“ in der englischen Originalausgabe würde nach seiner Rechnung auf einen Score von ungefähr 26.000 kommen, während „Harry Potter und der Stein der Weisen“ auf 7.000 käme und ein Erdmännchen-Krimi von Moritz Matthies bei großzügiger Bewertung gerade mal 3.000 Punkte einbringen würde. Das fühlt sich richtig an, und Johnny findet, dass er diesmal wirklich alles richtig gemacht hat.

Umso überraschter ist Johnny, als seine Reading Challenge im Laufe dieses dritten Jahres heimlich, still und leise einschläft. Irgendwie liest er von Woche zu Woche weniger, sein Leseziel rückt in immer unerreichbarere Ferne, bis er irgendwann im Mai feststellt, dass er seine Abende schon länger nur noch damit zubringt, alte Serien auf Netflix oder Katzenvideos auf Youtube anzuschauen…

Und die Moral von der Geschicht?

Johnny hat bei seinem Versuch, seine Leseerfahrungen mit einem Zahlenwert (neudeutsch: Score) zu versehen, die klassischen Phasen des Arbeitens mit Kennzahlen durchlaufen. Er hat zunächst eine Kennzahl festgelegt, die eigentlich gar nichts mit seinem eigentlichen Ziel zu tun hatte, dafür aber schön leicht zu bestimmen war. Im Ergebnis hat er dann die Kennzahl optimiert, ohne besagtem eigentlichen Ziel wirklich näher zu kommen.

In den nächsten Schritten hat er dann versucht, sich dem eigentlichen Ziel durch immer komplexere Kennzahlen anzunähern, doch irgendwie hat das nicht funktioniert. Denn leider konnte auch die schönste Rechnerei nichts daran ändern, dass Johnny von Anfang an ein Problem hatte: Die ach so großartigen, anspruchsvollen, berühmten Bücher, von denen er meinte, sie lesen zu müssen, um gebildete Bekannte zu beeindrucken, haben ihn genau genommen nie interessiert – sonst hätte er sie nämlich auch ohne aufwändiges Kennzahlen-System schon längst gelesen!

Er war, wie die Psychologen sagen würden, zu keinem Zeitpunkt intrinsisch motiviert. Das Ziel, von dem er glaubte, dass es das seine sei, war in Wahrheit nur eine externe Suggestion aus der langen Liste der „Du solltest eigentlich mal…“-Einflüsterungen, von denen es viel zu viele gibt, als dass man sie wirklich alle umsetzen könnte. Anfangs hat sich sein innerer Schweinehund noch herausgewunden, indem er immer neue Wege gefunden hat, das Jahresziel zu erfüllen, ohne sich wirklich anstrengen zu müssen. Aber je präziser der Score wurde, je systematischer Johnny die Schlupflöcher für den inneren Schweinehund geschlossen hat, desto klarer wurde: Kein Kennzahlensystem der Welt würde je aus unserem Johnny einen echten Literaten machen, weil er im Grunde seines Herzens nie wirklich dafür gebrannt hat.

Und wer jetzt hier eine Moral findet, der darf sie behalten…