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Menschen und Wahrscheinlichkeiten

So, nach über zwei Monaten Funkstille soll hier auch langsam wieder Leben in den Blog kommen. Wobei ich diesen Artikel eigentlich schon länger im Kopf habe, aber da er auch politische Themen berührt, habe ich ihn lange vor mir hergeschoben.

Ein Impfgegner-Argument

Es gibt ja verschiedene Gründe, aus denen Menschen eine Corona-Impfung ablehnen. Darüber will ich hier gar nicht urteilen, aber ich möchte ein spezielles Argument herauspicken, das ich im letzten halben Jahr insbesondere im Kommentarbereich verschiedener Zeitungen immer wieder gelesen habe und das ein Kernproblem beim rationalen Denken beleuchtet.

Das Argument geht grob wie folgt: „Ja, wer nicht geimpft ist, kann sich mit Corona anstecken / einen schweren Verlauf erleiden. Aber wer geimpft ist, kann sich auch mit Corona anstecken / einen schweren Verlauf erleiden. Also kann man das mit der Impfung auch lassen.“

Dabei ist die erste Hälfte des Arguments zweifellos richtig: Ja, man kann auch trotz Impfung mit Corona infiziert werden bzw. einen schweren Verlauf erleiden. Der Unterschied nach dem aktuellen Stand der Forschung besteht in der Wahrscheinlichkeit, mit der dies geschieht. So sagen die Statistiken, dass die Wahrscheinlichkeit, im August 2021 an Covid zu erkranken, ohne Impfung knapp 7-mal so hoch war wie mit Impfung. Und die Wahrscheinlichkeit, im gleichen Monat als Ungeimpfter wegen Covid auf der Intensivstation zu landen, war sogar 13-mal so hoch wie mit Impfung.

Damit ist die Folgerung „Also kann man das mit der Impfung auch lassen“ natürlich nicht mehr haltbar: Wenn eine Handlung die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Ereignis eintritt, verändert, muss dies auch die Bewertung der Handlungsalternative verändern. Das geschieht aber in vielen Fällen nicht, stattdessen wird eine Handlungsalternative als wertlos deklariert, wenn sie keine 100%-ige Erfolgsgarantie gibt.

Ein Blick auf die Wissenschaft

Diese Art der Argumentation trifft man auch in vielen anderen Kontexten, besonders dann, wenn jemand rationalisiert, um mit einer kognitiven Dissonanz ins Reine zu kommen. Der alte Spruch „Saufst, stirbst. Saufst net, stirbst ah!“ mag hier als Beispiel dienen.

Vor kurzem habe ich mir nun die Frage gestellt, ob diese Denkweise auch eine Ursache für die zunehmende Wissenschaftsskepsis in der westlichen Gesellschaft ist. Denn in den meisten Fällen kann Wissenschaft ja auch keine absoluten Wahrheiten verkündet – sie versucht vielmehr, sich durch Versuch und Irrtum der Wahrheit anzunähern. Die Wahrscheinlichkeit, dass die so entwickelten Modelle die Wirklichkeit korrekt vorhersagen, ist zwar für gewöhnlich deutlich höher als bei rein anekdotischem Denken („Ich kenne jemandem, bei dem hat das funktioniert!“), aber sie liegt dennoch nicht bei 100%.

Speziell für den Laien, der mit Wahrscheinlichkeiten nicht umzugehen versteht, ist das nur schwer verständlich. Dieses Problem wird noch verschärft, wenn Wissenschaftler mit einem Wahrheitsanspruch auftreten, den ihre Disziplin gar nicht erfüllen kann. Dann sieht der Laie nur den Experten, der X sagt, und den anderen Experten, der X bestreitet, und kommt zu dem Schluss, dass die ja offensichtlich auch nicht wissen, wovon sie reden. Dass es hinter den Kulissen ebenfalls um Wahrscheinlichkeiten geht (die teilweise nicht einmal wirklich quantifiziert werden können), bleibt für den Außenstehenden unsichtbar und unverständlich.

Wirklich kritisch ist aber, wenn Wissenschaftler selbst vergessen, was Wissenschaft kann und was nicht. Dies gilt zum einen für Anhänger bestimmter Denkschulen, die der Einfachheit halber ihre Schule für „wahr“ und die anderen für „falsch“ deklarieren. Es gilt aber auch für so manchen Philosophen, der aus der korrekten Beobachtung „Wir können nicht zu 100% sicher sein, dass unsere Beobachtung der Wirklichkeit wahr ist“ die völlig überzogene Folgerung „Es gibt keine objektive Wahrheit“ gezogen und damit den alternative facts Tür und Tor geöffnet hat.

Ich würde ja voller Enthusiasmus fordern, dass wir endlich anfangen müssen, schon in den Schulen den Umgang mit Wahrscheinlichkeiten zu lehren. Auch müssten wir den Menschen beibringen, dass ein wissenschaftliches Erklärungsmodell zwar besser ist als seine Vorgänger, wenn es mit höherer Wahrscheinlichkeit korrekte Vorhersagen trifft, dass es aber immer noch ein Erklärungsmodell bleibt und keine absolute, ewige Wahrheit. Aber wenn schon die Wissenschaftler selbst sich darüber oft nicht mehr im Klaren sind, dann haben wir wahrlich einen weiten Weg vor uns.