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Mein Flirt mit der Network Science

Oh je, ist mein letzter Beitrag lange her – volle vier Monate? Solch lange Lücken wollte ich eigentlich nie einreißen lassen!

Der Grund dafür ist meine neue Begeisterung für das Thema „Network Science“, auf das ich in den letzten fünf Monaten ziemlich viel Zeit und Energie verwendet habe und von dem ich im ersten Moment den Eindruck hatte, es würde zu weit vom Blogthema „Algorithmisches Denken“ wegführen, um hier behandelt zu werden. Aber je länger ich mich damit beschäftige, desto klarer ist mir eigentlich, dass das überhaupt nicht der Fall ist. Daher will ich heute erklären, worum es geht und auch, was mich daran gerade so begeistert.

Network Science – Was ist das überhaupt?

Ein Netzwerk besteht aus diskreten Elementen (Knoten) und den Verbindungen zwischen ihnen (manchmal auch Kanten genannt). Dabei kann grundsätzlich jede denkbare Art von Beziehung modelliert werden: Stromnetze, Verkehrsnetze, Kommunikationsnetze, Computernetze, biologische Netze, neuronale Netze, soziale Netze und natürlich das „Netz der Netze“, insbesondere das World Wide Web.

Nun beschäftigt sich die mathematische Disziplin der Graphentheorie schon spätestens seit Leonhard Euler (also seit über 250 Jahren) mit Knoten und Kanten. Was also ist neu an der Netzwerkforschung?

Der wichtigste Unterschied ist, dass die Graphentheorie nur statische, abstrakte Modelle untersucht. Sie fragt nicht danach, was die Knoten oder Kanten repräsentieren, welche zusätzlichen Eigenschaften (abgesehen von Kantengewichten) sie haben, ob sie sich mit der Zeit verändern oder welche Prozesse darin ablaufen. Die Netzwerkforschung dagegen versucht, diese Aspekte realer Netzwerke so gut wie möglich mit einzubeziehen. Sie ist daher quasi per Definition interdisziplinär: im Unterschied zu einem Graphen kann man ein Netzwerk nicht untersuchen, ohne zu wissen, was es in der wirklichen Welt darstellt.

Gibt es keine deutsche Bezeichnung für „Network Science“?

Zunächst einmal: die wörtliche Übersetzung „Netzwerkwissenschaft“ scheint in der Praxis kaum eine Rolle zu spielen. Stattdessen findet man in Deutschland vor allem den Begriff „Netzwerkforschung“, mit dem ich mich aber erstaunlich schwer tue. Das liegt nicht nur daran, dass das Wort selbst recht sperrig klingt, sondern auch daran, dass er quasi ausschließlich von Soziologen verwendet wird.

Das hat leider zur Folge, dass nahezu alle Texte, auf die man in dem Zusammenhang stößt, die Sprache der (deutschen) Soziologie sprechen, und die ist aus Sicht eines Informatikers, eines Ingenieurs oder sogar eines nach 1960 geborenen Betriebs- oder Volkswirts recht speziell. Wer sich mal ein Bild machen will, der schaue sich den deutschen Wikipedia-Artikel zu Netzwerkforschung an und vergleiche ihn mit dem englischen Wikipedia-Artikel zu Network Science. Und nein, es ist nicht nur die Wikipedia, ich könnte auch deutschsprachige Bücher, Paper und Webseiten verlinken, die diese Sprechweise pflegen, bei der durchaus allgemeinverständliche Zusammenhänge unnötig kompliziert ausgedrückt werden. Sogar die Selbstbeschreibung der Deutschen Gesellschaft für Netzwerkforschung klingt, als bestünde das Primärziel darin, Nicht-Soziologen aus der „Netzwerkforschung“ fernzuhalten.

Aus Diskussionen mit deutschen Geisteswissenschaftlern in anderen Zusammenhängen ahne ich, wie die Entgegnung lauten wird: Man müsse sich eben um eine möglichst präzise Formulierung bemühen, denn ohne Klarheit in der Sprache sei Geisteswissenschaft nicht möglich. Seltsamerweise gelingt es aber Geisteswissenschaftlern beispielsweise in angelsächsischen Ländern, dennoch Texte zu verfassen, die auch für Außenstehende lesbar sind und die sogar großen Einfluss erlangen. Nur in Deutschland hält man hartnäckig an einem Sprachstil fest, dem die Ingenieure und Naturwissenschaftler hinter vorgehaltener Hand vorwerfen, er diene schon lange nur noch dazu, fehlende Substanz zu kaschieren.

Dazu mag man stehen, wie man will, aber Fakt ist, dass die Network Science eben keine rein geisteswissenschaftliche Disziplin ist und dass es den internationalen Network Scientists (ja, auch den Soziologen unter ihnen!) deutlich besser gelingt, eine gemeinsame Sprache zu finden. Bei den deutschen Netzwerkforschern fühle ich mich dagegen schon aufgrund der Sprache als Informatiker nicht willkommen.

Nun will ich nicht leugnen, dass aus diesem Abschnitt auch ein gutes Stück persönlicher Frustration spricht. Und ich will auch nicht ausschließen, dass die Realität der deutschen Netzwerkforschung eine ganz andere ist – eigentlich hoffe ich es sogar! In diesem Fall lasse ich mich sehr gerne im Kommentarbereich (mit Quellen) eines Besseren belehren. Bis dahin aber bleibe ich beim englischen Begriff „Network Science“.

Warum jetzt Network Science?

Nun aber zum eigentlichen Thema des heutigen Blogbeitrags. Es geht ja eigentlich um die Frage, was mich an dieser Disziplin fasziniert hat und was ich mir von ihr verspreche.

Vielleicht beginne ich, in dem ich einen alten Witz wiedergebe (der natürlich geschrieben noch schlechter funktioniert als wenn ich ihn erzählen würde):

Ein Polizist geht die nächtliche Straße entlang und sieht einen Betrunkenen, der auf allen Vieren unter einer Straßenlaterne herumkriecht.

„Was tun Sie denn da?“

„Ich suche meinen Haustürschlüssel!“

„Was? Und den haben Sie ausgerechnet hier unter der Lampe verloren?“

„Nee,“ nuschelt der Betrunkene und zeigt in die Dunkelheit der Straße, „irgendwo da hinten.“

„Ja, aber warum suchen Sie denn dann hier?“

„Na Sie sind gut – weil es hier heller ist, natürlich!“

Seit ich mich mit Wissenschaft beschäftige, finde ich, dass dieser Witz den Forschungsbetrieb ganz gut beschreibt. Die meisten Doktoranden beginnen mit großen Plänen, was sie erfinden, verstehen, entdecken wollen. Dann merken sie aber relativ schnell, dass das nicht so einfach ist (die anderen sind eben doch nicht so blöd, wie man dachte), und fangen stattdessen an, dort zu suchen, wo mehr Licht ist. Auf diese Weise löst man zwar das ursprüngliche Problem nicht, aber man findet wenigstens ab und zu etwas, was mit der Zeit zu einer hübschen Publikationsliste heranwächst.

Wenn ich auf die Liste der Wissenschaftsdisziplinen schaue, von denen ich nicht die erhofften Antworten bekommen habe, dann haben sie eines gemeinsam: Sie kommen irgendwann zu der Erkenntnis, dass das eigentliche Problem zu kompliziert ist, und vereinfachen dann solange, bis etwas Lösbares herauskommt. Und eines der Elemente, das fast immer als erstes der Vereinfachung zum Opfer fällt, ist das Zusammenspiel der Komponenten – also genau das, was die Netzwerktheorie in den Vordergrund rückt.

Das erste Buch, das ich zur Network Science in Händen hielt, war durch einen glücklichen Zufall „Networks, Crowds, and Markets“ von David Easley und Jon Kleinberg (das Werk ist auch kostenlos online auf den Webseiten der Autoren verfügbar). Ich konnte nicht ahnen, dass es keine „typische“ Einführung in die Network Science ist, sondern dass es neben den üblichen Grundlagen einen besonderen Schwerpunkt setzt: es verknüpft Konzepte aus Netzwerk-, Spiel- und Markttheorie zu einem kohärenten Ganzen. Und plötzlich hatte ich das Gefühl, dass hier endlich mal jemand versucht, den einen Schritt weiterzugehen und menschliches Verhalten mit einem rigorosen Instrumentarium zu untersuchen, das nicht zu stark vereinfacht und zu dem ich als Informatiker trotzdem einen Zugang finden kann. Sofort konnte ich Anwendungen in der Entscheidungslehre, der Ethik, der Politikwissenschaft und der Ökonomie, aber beispielsweise auch in Peer-to-Peer-Systemen (wie etwa den derzeit so beliebten Blockchains) oder der IT-Sicherheit erkennen. Und ich sah sogar die Möglichkeit, selbst etwas zu diesen Fragestellungen beizutragen.

Also stürzte ich mich ins Selbststudium und habe auch gleich einen Kurs zu dem Thema ins Leben gerufen, den ich in diesem Sommersemester erstmals gehalten habe. Ich habe viel gelernt über das, was ich von der Network Science will, aber auch über das, was mich eigentlich nicht sonderlich interessiert. Jetzt überlege ich, ob ich an der Konferenz NetSci 2022 teilnehme, die im Juli (für mich praktischerweise) als reine Online-Konferenz stattfindet.

Und eigentlich wollte ich mich danach in erste eigene Projekte stürzen, aber dazu wird es wohl aufgrund unerwarteter anderer Verpflichtungen nicht kommen. Ich werde aber versuchen, mich weiter in die Thematik hineinzuwühlen. Daher wird es in diesem Blog in nächster Zeit wohl überwiegend Beiträge zum Thema Network Science, komplexe Systeme und Spieltheorie geben, von denen ich hoffe, dass sie auch für einen Leser ohne große Vorkenntnisse von Interesse sein könnten.