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Kleine Schritte

Im Kern soll es in diesem Blog natürlich um das Thema Geist und Computer gehen. Aber manchmal rutscht mir ein Beitrag wie dieser dazwischen, der eher mit Selbstmanagement oder der akademischen Welt zu tun hat. Vielleicht ist das ja trotzdem für den einen oder anderen Leser interessant…

Ein Blick zurück

Zur Erinnerung: Es ist jetzt etwa sechs Jahre her, dass ich angefangen habe, mich innerlich von meinem langjährigen Arbeitsschwerpunkt „Kryptografie“ zu verabschieden. Es folgte eine mehrjährige Suche nach dem neuen „Big Thing“, die mich durch eine ganze Reihe von Themen geführt hat. Und am Ende bin ich wieder dort herausgekommen, wo ich angefangen habe, nämlich bei meinem Interesse dafür, wie unser Denken funktioniert und wie wir es mit Methoden der Informatik verstehen und verbessern können.

In diesen Jahren der Suche habe ich viele tausend Seiten gelesen, allerdings vor allem in Sachbüchern. Das hat soweit ganz gut geklappt, weil die ja typischerweise verständlich genug geschrieben sind, dass man sie einfach beim Frühstück oder abends vor dem Schlafengehen „runterlesen“ kann.

Zugleich bin ich aber in den Jahren immer wieder auf Bücher gestoßen, die eine größere Tiefe hatten und bei denen ein echtes Studieren notwendig gewesen wäre. Also Nachdenken, Notizen machen, Recherchieren, Beispiele durchspielen, Simulationen schreiben, Querverbindungen ziehen, Gegenmeinungen einholen usw. Das erfordert (Konzentrations-)Zeit, und die hatte ich nicht. Also habe ich viele davon erstmal auf den „später lesen“-Stapel gelegt. Und vor dem stehe ich jetzt.

Pile of Shame

Unter den anspruchsvolleren Büchern, in deren Thematik ich wirklich gerne tiefer einsteigen würde, sind Werke wie beispielsweise:

  • Binmore (1994/1998): Game Theory and the Social Contract (2 Bände)
  • Farrell/Lewandowsky (2018): Computational Models of Cognition and Behavior
  • Friedenberg/Silverman/Spivey (2022): Cognitive Science
  • Gallistel/King (2010): Memory and the Computational Brain
  • Gershman (2021): What Makes us Smart
  • Griffiths/Chater/Tenenbaum (2024): Bayesian Models of Cognition
  • Pearl/Mackenzie (2018): The Book of Why
  • Poole/Mackworth (2023): Artificial Intelligence
  • Prince (2023): Understanding Deep Learning
  • Robertson (2017): Problem Solving
  • Titelbaum (2022): Bayesian Epistemology (2 Bände)

Die Liste ist alles andere als vollständig, sie stellt vielmehr nur die Spitze des Eisbergs dessen dar, was ich gerne verstehen würde. Und dazu kommt dann noch jede Menge Know-How sowohl theoretischer als auch technischer Art, das ich weniger an einzelnen Büchern als vielmehr an einzelnen Konzepten festmachen würde.

Die Begeisterung ist da, ebenso die Überzeugung, jetzt endlich an der richtigen Stelle zu sein. Was mir aber fehlt, ist die Zeit dazu. Denn natürlich sind da ja all die bestehenden Aufgaben, die ich habe und die sich auch nicht einfach in Luft auflösen, nur weil ich gerade ein neues Spielzeug gefunden habe, mit dem ich mich gerne mehr beschäftigen würde.

In manchen Zeitmanagementbüchern finden sich dazu kluge Ratschläge, dass man in solchen Fällen alles andere runterpriorisieren möge, aber damit kann ich wenig anfangen. Denn fast alles, was ich meiner Zeit tue, ist ja mit Verantwortung gegenüber anderen Menschen verbunden – es sind Zusagen, die ich gemacht habe, die mir (und anderen) etwas bedeuten und die ich daher ernst nehme.

Soll ich etwa mein Amt als Dekan aufgeben, damit ich mich wieder mehr meinen Forschungsinteressen widmen kann? Soll ich zugesagte Pflichtvorlesungen aufkündigen, die außer mir niemand an der Fakultät halten kann, um Wahlfächer zu persönlichen Lieblingsthemen zu halten? Soll ich meiner Familie sagen, sie möge sich künftig mehr um sich selbst kümmern, weil Papa keine Zeit mehr hat? Offen gestanden halte ich ein solches Vorgehen für nackten Egoismus.

Das bedeutet aber, dass ich nur vergleichsweise wenig Zeit habe, um mich wirklich mit neuen Inhalten zu beschäftigen. Realistisch schaffe ich es bei guter Disziplin und Selbstorganisation, mir in einem halben Jahr das Äquivalent einer neuen Vorlesung zu erarbeiten (was vielleicht mit dem Durcharbeiten eines anspruchsvolleren Buchs vergleichbar ist). Und wenn ich das dann mit der obigen Bücherliste vergleiche, wird schnell klar: Es ist vollständig unrealistisch, die Breite und Tiefe, die ich mir wünschen würde, in den nächsten Jahren zu erreichen.

Tiny Experiments

Nun habe ich dieser Tage gerade das Buch „Tiny Experiments“ von Anne-Laure Le Cunff gelesen. Im Kern geht es hier um den Paradigmenwechsel vom zielorientierten zum prozessorientierten Arbeiten, und zumindest für mich selbst ist das ein Weg, der seit jeher besser funktioniert: Statt sich auf bestimmte SMART-Meilensteine zu versteifen, legt man stattdessen eine Vorgehensweise fest und versucht, diese konsequent einzuhalten. Was dabei an Ende herauskommt, lässt sich zu Beginn nicht wirklich vorhersagen, aber das Vorgehen hat auch den Vorteil, dass man offen bleibt für die Chancen, die sich auf dem Weg ergeben.

Gefühlt bleibt mir für das Projekt Geist und Computer gar nichts anderes übrig, als diesen Weg zu gehen. Ich kann nur sehen, dass ich die verfügbare Zeit wirklich für dieses Ziel nutze, und dann sehen, wohin mich die Reise führt.

Sehr wahrscheinlich werde ich es auf diesem Weg nicht schaffen, in diesem für mich doch immer noch recht neuen Fachgebiet noch einmal das Niveau eines international renommierten Forschers zu erreichen. Was aber in jedem Fall möglich sein sollte, ist das Verständnis meiner wichtigsten Kernfragen – und das Teilen dieses Verständnisses mit Studierenden, Schülern oder Lesern von Blogartikeln, Buchbeiträgen oder Github-Code. Und wie ich das so schreibe, merke ich, dass ich damit eigentlich auch schon ganz gut leben kann.

Learning in Public

Wie häufig bei Büchern aus dem Selbstmanagement-Genre fanden sich auch bei „Tiny Experiments“ die wichtigsten Erkenntnisse auf den ersten Seiten, und ich hatte schon die Sorge, dass der Rest mit den üblichen Anekdoten („Nehmen wir mal Frau A, die hat das auch so gemacht, und es hat funktioniert, womit unsere Methode bewiesen wäre“) und Wiederholungen gefüllt würde.

Die Anekdoten gibt es tatsächlich zuhauf, aber zum Glück gibt es auch im hinteren Teil des Buches noch interessante Kapitel. Eines hat die Überschrift „Learning in Public“ und hat mich sofort abgeholt, weil mich das Thema schon länger umtreibt. Es geht dabei darum, dass es eigentlich hilfreich ist, solche Lernprojekte wie meines in die Öffentlichkeit zu tragen, weil dadurch Dialoge entstehen oder zumindest andere unterstützt werden, die sich mit ähnlichen Problemen herumschlagen. Allerdings tritt dabei das Problem auf, dass man sich dabei natürlich extrem verwundbar macht: Noch kann man ja wenig, man ist nicht der große Guru, der den anderen jetzt die Welt erklärt, sondern ein Lernender, der möglicherweise komplett auf dem Holzweg ist und das auch noch für alle sichtbar dokumentiert.

Dieses Problem zieht sich ja auch durch diesen Blog. So habe ich hier schon behauptet, dass ich mir gar keine Sorgen mache, dass wir jemals wirklich leistungsfähige KIs zu Gesicht bekommen werden (das war gerade mal anderthalb Jahre vor der Veröffentlichung von ChatGPT und kann in der Rückbetrachtung nur als epische Fehleinschätzung gewertet werden). Und ich habe auch schon beschrieben, wie ich es geschafft habe, jahrelang durch die akademische Welt zu wandern, ohne jemals was von Bayesscher Statistik mitbekommen zu haben. In letzterem Beitrag habe ich auch schon das Problem des Generalisten beschrieben, das eben darin besteht, dass quasi überall ein Spezialist rumläuft, der mehr weiß als er und der damit die Möglichkeit hat, den Generalisten lächerlich zu machen.

Dieses Problem haben natürlich alle Menschen, die sich in der Öffentlichkeit zu Wort melden, aber bei Professoren ist es nochmal deutlich ausgeprägter: Von ihnen wird geradezu erwartet, dass sie von allem Ahnung haben, wozu sie sich äußern. Der potentielle Gesichtsverlust, wenn das dann doch nicht der Fall ist, ist entsprechend größer.

Viele ziehen daraus die Konsequenz, die Sicherheit ihrer mit Anfang 30 hart erarbeiteten Kernkompetenz nie wieder zu verlassen. In manchen Fällen führt das zu dem skurillen Phänomen, dass sich ganze Forschercommunities bis in die Rente gegenseitig bestätigen (man schreibt weiter Papers, bewertet sich positiv und hält hochspezialisierte Tagungen ab, auf denen man über die ahnungslose Jugend lästert), obwohl die Karawane schon längst weitergezogen ist und das Thema schon seit Jahren niemanden außerhalb der Altmeister mehr interessiert.

Akademisch ist das natürlich eine Tragödie: Eigentlich müsste man gerade Professoren dazu ermutigen, neugierig zu bleiben und sich immer wieder neu auszurichten. Die Anreize sind aber leider anders gesetzt: Publikationen bekommt man eben am besten dort, wo man schon Experte ist, und Fördermittel bekommt man nur für Themen, in denen man schon viele Publikationen vorzuweisen hat. Geistige Beweglichkeit und das ständige Streben nach neuen Ufern wird so natürlich nicht wirklich belohnt, und von den Konsequenzen kann so mancher Student und so manche Studentin ein Lied singen.

Mein Weg

Für mich gibt es aber inzwischen ohnehin keinen Weg mehr zurück. Die Brücken zurück zu meinem alten Forschungsgebiet sind inzwischen eingestürzt, und auch die Fehler, die ich in diesem Blog bereits gemacht habe, lassen sich nicht mehr zurücknehmen. Also kann ich es mir leisten, hier weiter zu dokumentieren, was ich gerade entdeckt habe – auch wenn manches davon noch nicht der letzte Stand der Forschung ist oder vielleicht von Experten bezweifelt wird, deren Arbeiten ich dazu noch nicht gelesen habe.

Natürlich habe ich die heimliche Hoffnung, dass ein Leser, dem ein solcher Fehler (oder vielleicht besser: eine solche Möglichkeit zur Weiterentwicklung) auffällt, mir im Kommentarbereich einen Hinweis gibt. Denn auch wenn ich in meinen Beiträgen nicht in jedem zweiten Satz „meines Wissens“ schreibe, bin ich mir bewusst, dass ich im Themenbereich Geist und Computer immer noch ein Lernender bin und in Anbetracht der beschränkten Zeit auch noch lange bleiben werde.

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Vom Spielen und Menschwerden

Heute will ich mal einen großen und vielleicht etwas mutigen Bogen schlagen: Von der Entwicklung des Spielzeugs seit meiner Jugend hin zu den auffälligen Veränderungen, die wir als Hochschullehrer bei jungen Menschen erleben.

Der Kosmos-Experimentierkasten „Elektronik“

Die folgenden Bilder zeigen die populären Elektronik-Baukästen der Firma KOSMOS – einmal aus dem Jahr 1983 und einmal aus dem Jahr 2020. Zufälligerweise habe ich beide noch hier liegen und kann daher den Artikel mit ein paar Fotos beginnen:

Ich weiß nicht, ob Ihnen dabei das gleiche ins Auge springt wie mir? Beim früheren Experimentierkasten (oben im Bild) kam man in Kontakt mit den echten Bauteilen, wie sie auch in der realen Elektronik zum Einsatz kommen. Man musste Widerstände, Kondensatoren, Transistoren und Drahtbrücken zurechtbiegen, das Bestimmen der Teile (z.B. den Farbcode der Widerstände) lernen und sie auf einem Breadboard montieren, genau wie man es noch heute beim Bau eines Prototypen im Labor macht. Die Produktion der Teile war für den Hersteller sehr günstig, weshalb die Packung auch sehr viele davon enthielt. Und wenn die mal kaputt gingen oder man eine Schaltung bauen wollte, die in der Anleitung nicht vorgesehen war, konnte man für 5 Pfennig ein Ersatzteil kaufen.

Im heutigen Experimentierkasten ist dagegen alles idiotensicher in Plastikblöcke eingeschweißt. Man kommt gar nicht mehr in Berührung mit dem tatsächlichen Bauteil, das Look-and-Feel ist so, als würde man die Schaltung am Computer zusammenklicken. Die Produktion ist aufwändig, die Packung enthält daher nur wenige Teile, und Ersatz oder Ergänzungen für eigene Schaltungen sind nicht zu bekommen.

Warum interessiert mich das? Ich mag das hohe Lied „Früher war alles besser“ normalerweise nicht besonders gern, aber an dieser Stelle stimmt es leider. Früher hat man Heranwachsende, die sich mit einem Experimentierkasten beschäftigt haben, wie kleine Erwachsene behandelt – die Ingenieure von morgen – und wir sind uns auch so vorgekommen. Heute behandelt man sie dagegen wie kleine Kinder, die vor dem Kontakt mit der Wirklichkeit beschützt werden müssen, indem man die tatsächlichen Bauteile bis zur Unkenntlichkeit wegabstrahiert. Dass das, was sie da bauen, irgendeinen Bezug zur realen Welt haben könnte, ist nicht mehr zu erkennen.

Nun unterstelle ich einem Hersteller wie Kosmos ja nicht, dass sie dumm sind, im Gegenteil. Diese Umstellung von „Zwölfjährige sind fast schon Erwachsene“ zu „Zwölfjährige sind eigentlich auch nur kleine Kinder“ wird seine Gründe im Markt haben: technisch anspruchsvolles Spielzeug für diese Altersgruppe verkauft sich nicht mehr. Ein Phänomen, das man ja auch anderswo beobachten kann.

Das Sterben des Technik-Spielzeugs

Ein anderer Klassiker, dem meine Generation hinterhertrauert, ist das Yps-Heftchen. Mit diesem Comic-Magazin, das im Jahr 1975 erstmals erschien, wurde immer auch ein Bastelprojekt mitgeliefert, und gerade technisch interessierte Kinder gehörten zu den Stammkunden. Aber auch Yps wurde von der Zeit eingeholt: Während es Comichefte mit Spielzeugbeilage bis heute gibt (von Lego über Playmobil bis zu Dinosauriern oder Handyattrappen), wurde Yps wegen der stark gefallenen Absatzzahlen im Jahr 2000 eingestellt.

Die Liste lässt sich verlängern. So gibt es die Metallbaukästen, mit denen die Boomer-Generation noch aufgewachsen ist, schon lange nicht mehr im Massenmarkt. Und auch ihre Nachfolger wie etwa LEGO Technik verkaufen sich heutzutage in erster Linie an Erwachsene; Fischertechnik hat sich aufgrund der hohen Preise wohl schon immer eher an diese Zielgruppe gewandt. Und sogar die Robotik-Plattformen LEGO Mindstorms und LEGO Boost wurden inzwischen aufgegeben (der Nachfolger LEGO Spike existiert zwar noch, ist aber ziemlich kindisch, wird kaum beworben und ist überdies extrem teuer, so dass ich Zweifel habe, ob er sich am Markt halten kann).

Ein letztes Beispiel noch aus dem Ort, in dem ich jetzt wohne. Als wir hier hergezogen sind, haben wir irgendwann am Waldrand ein Gelände entdeckt, auf dem sich mehrere Baumhäuser befanden. Dazwischen gab es Kletterseile, Holzbrücken und am Boden Werkzeugschuppen, die ziemlich improvisiert aussahen. Auf mein Nachfragen stellte sich heraus, dass hier früher die Jugendlichen des Ortes ihre eigene Stadt hatten – unter Anleitung örtlicher Handwerker aus Holz, Nägeln, Seilen, Teerpappe etc. selbst gebaut und nach Schulschluss bewohnt. Aber dann ist irgendjemand auf die Idee gekommen, die Frage nach der richtigen Versicherung zu stellen, und die ist ja in Deutschland wichtiger als die Persönlichkeitsentwicklung von Heranwachsenden. Also wurde das Projekt eingestellt, das Grundstück wucherte zu, und inzwischen ist alles abgerissen worden.

Ist das denn ein Problem?

Und das bringt mich langsam zum Thema „Geist und Computer“ zurück. Denn natürlich kann man immer argumentieren, dass sich die Zeit weiterdreht und Altes durch Neues ersetzt wird. Ich habe aber inzwischen gewaltige Zweifel, dass diese Entwicklung gut ist, wenn die aktive Beschäftigung mit der wirklichen Welt ausschließlich durch die passive Beschäftigung mit virtuellen Welten ersetzt wird.

Natürlich war es auch früher nicht so, dass ganze Jahrgänge „Radios bauen“ oder „Motorräder frisieren“ als Hobby angegeben hätten. Aber irgendwelchen physischen Kontakt zur physischen Welt hatte eigentlich jeder Jugendliche, egal ob man nun in der Kellerwerkstatt gebastelt, ein Baum- oder meinetwegen auch nur Vogelhaus gebaut, im Garten gebuddelt, am Fahrrad rumgeschraubt, auf dem Bolzplatz gekickt oder in der Küche geholfen hat.

Vieles davon findet heute nicht mehr statt. Für viele Kinder und Jugendliche zerfällt der Tag mittlerweile in zwei Teile – die Beschäftigung mit den (möglichst weltfernen) Inhalten der Schule, bei denen etwa das korrekte Bilden des französischen Plusquamperfekts wichtiger ist als die Fähigkeit, die Sprache bei einem Frankreich-Besuch tatsächlich verstehen oder sprechen zu können, und den (ebenfalls möglichst weltfernen) Inhalten von Smartphone und Spielekonsole, die man für alles nutzt, aber nicht dafür, sich ein Anleitungsvideo anzuschauen, wie man seinen platten Fahrradreifen reparieren könnte. So man ein solches denn überhaupt hat und nicht von den besorgten Eltern mit dem Auto zu allen Terminen gefahren wird.

Im Ergebnis erleben wir viele junge Menschen beim Übergang zu Berufsausbildung oder Hochschule als stark verunsichert. Plötzlich und unerwartet stehen sie jetzt vor diesem Ding namens „wirkliches Leben“ und stellen fest, dass man sie 20 Jahre lang erfolgreich davor beschützt hat. Manche von ihnen schaffen es noch, das Ruder herumzureißen, aber wir erleben auch zahlreiche Fälle von vollständiger Überforderung und daraus resultierenden Depressionen. Inzwischen hat jede Hochschule, mit der ich zu tun habe, dieses Thema auf der Agenda, weil es sich eben um wirklich viele Fälle handelt.

Die Schuld wird da gerne bei den Covid-Lockdowns gesucht, aber ich fürchte, dass die Hauptursache die verlorenen Jahre der Kindheit und Jugend sind, in denen der Umgang mit der wirklichen Welt nicht geübt wurde. Vermeintlich selbstverständliche Fähigkeiten wie Selbststeuerung, Problemlösungskompetenz, Entscheidungsfähigkeit, Frustrationstoleranz oder Teamverhalten werden teilweise erst mit Anfang 20 erlernt – wenn es denn überhaupt noch klappt.

Ein Literaturtipp

Der Philosophieprofessor und Motorradmechaniker (!) Matthew B. Crawford liefert in seinem Buch „Die Wiedergewinnung des Wirklichen“ ein eindringliches Plädoyer dafür, dass wir uns unsere Welt wieder durch direkten Kontakt aneignen müssen, und er hat dabei nicht nur die Philosophie, sondern auch die Erkenntnisse der Neurowissenschaften auf seiner Seite.

Mich hat dieses Buch sehr nachdenklich gemacht, und ich halte den darin enthaltenen Appell für einen der wichtigsten unserer Zeit: Wir brauchen für unsere eigene geistige Gesundheit wieder mehr Kontakt mit der wirklichen Welt, mit ihren Widrigkeiten und ihren zahllosen Details, die sich nicht an die einfachen Modelle aus Medien und Wissenschaft halten. Der menschliche Geist ist gut darin, mit dieser chaotischen und widerspenstigen Welt umzugehen. Er braucht Haptik, sozialen Umgang und gelegentliche Widerstände – und die Selbstwirksamkeitserfahrung, die nur entsteht, wenn man diese Widerstände erfolgreich überwunden hat.

Ich schließe mich M. Crawford an: Wir sollten uns selbst diese Möglichkeiten zum Wachstum wieder häufiger bieten – und unseren Kindern erst recht.

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Geist und Computer

Wie bereits im Januar geschrieben, bin ich nach längerer Suche (und diversen Abschweifungen) mit meiner Arbeit wieder zum ursprünglichen Thema dieses Blogs zurückgekehrt. Die Bezeichnung „Algorithmisches Denken“ würde ich heute zwar nicht mehr verwenden (einfach deshalb, weil unser Denken im Kern gar nicht auf Algorithmen beruht), aber das Ziel bleibt das gleiche: Ich möchte den Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen menschlichem Denken und maschinellem Problemlösen nachspüren bzw. die Zusammenhänge zwischen beiden verstehen.

Dieses Themenfeld gehört ins Forschungsgebiet der Kognitionswissenschaft. Da diese Bezeichnung aber etwas sperrig ist (und das Forschungsgebiet in manchen Communities als etwas „angestaubt“ gilt, obwohl es meiner Meinung nach gerade aufgrund der aktuellen Durchbrüche in der KI-Forschung so relevant ist wie noch nie), habe ich es für mich selbst inzwischen mit der Überschrift „Geist und Computer“ versehen.

Schwerpunkte im Überblick

Nun ist dieses Feld natürlich ziemlich umfangreich, und gerade jemand wie ich, der ohnehin ständig dazu neigt, von Hölzchen auf Stöckchen zu kommen, muss sehr aufpassen, sich nicht rettungslos darin (und in interessant klingenden Nachbardisziplinen) zu verzetteln. Ich bin daher dieses Frühjahr mal in mich gegangen und habe mich gefragt, welche Fragestellungen für mich

  • im Mittelpunkt stehen, weil ich sie um ihrer selbst willen verstehen oder anwenden will,
  • eher Hilfsmittel sind, weil sie geistiges oder technisches Rüstzeug liefern, um die Hauptfragen bearbeiten zu können, oder
  • gar keinen wirklichen Bezug zum menschlichen Denken haben.

Dabei ist die folgende Übersicht über meine künftigen Arbeitsschwerpunkte entstanden:

Wie man sieht, geht es im Kern um Modelle des Denkens (also das Verstehen, wie Denken funktioniert) und Werkzeuge des Denkens (also um Techniken, mit denen wir besser darin werden können).

Was für den Leser vielleicht nicht sonderlich aufregend klingen mag, war für mich ein wichtiger Schritt – vor allem, weil es einigen Disziplinen, mit denen ich mich in den letzten Jahren teils ausgiebig beschäftigt habe (wie beispielsweise das Feld der Komplexen Systeme), künftig eine „dienende“ Rolle zuweist. Ich erhoffe mir von ihnen nützliche Grundlagen und Werkzeuge, will sie aber künftig nicht mehr um ihrer selbst willen studieren, sondern nur noch on demand mit einer klaren Aufgabenstellung vor Augen.

Modelle des Denkens

Aussagekraft von Modellen: Wenn man über Modelle des Denkens nachdenkt, muss man sich zuerst Gedanken darüber im Klaren sein, was ein Modell überhaupt ist. Ein entscheidender Punkt, der in der Öffentlichkeit und sogar in der Wissenschaft überraschend häufig vergessen wird, ist nämlich: Ein Modell ist per Definition eine Vereinfachung der Wirklichkeit. Jedes Modell trifft andere Annahmen, lässt bestimmte Komplexitäten weg und richtet den Scheinwerfer auf bestimmte Aspekte. Ein Modell ist daher auch niemals (!) richtig oder falsch – es erfüllt nur die Aufgabe, für die es erschaffen wurde, mal mehr und mal weniger gut. Wer etwas anderes behauptet, hat das Konzept eines Modells nicht verstanden, und läuft Gefahr, es mit einer absoluten Wahrheit zu verwechseln – ein Phänomen, das wir gesellschaftlich häufig erleben und das sich gefühlt in den letzten Jahren dank Social-Media-Filterblasen wieder verschlimmert hat bis hin zu einem quasi-religiösen Glauben an teils absurd simplistische Modelle.

Formale und technische Modelle des Denkens: Wenn wir uns das bewusst gemacht haben, wird auch klar, warum Wissenschaftler, die sich mit der Funktionsweise des Denkens beschäftigen, verschiedene Modelle für den gleichen Vorgang diskutieren. So gibt es neben den klassischen Modellen der Kognitionspsychologie, die sich auf das menschliche Gehirn beschränken, auch die eher technischen Modelle der Kognitionswissenschaft, in denen zumindest Teilaspekte des menschlichen Denkens in Form von Rechenmaschinen modelliert werden, um sie besser verstehen zu können (Computertheorie des Geistes). Natürlich werden diese voraussichtlich nie alle Aspekte des menschlichen Denkens, Fühlens oder Bewusstseins abbilden können – dafür ist das Gehirn als emergentes System viel zu komplex, und es kann wohl auch nicht unabhängig von Körper und Umwelt verstanden werden. Aber es gelingt doch immer wieder, aus dem technischen Modell Erkenntnisse über den menschlichen Geist zu gewinnen, von dem sie inspiriert sind.

Implementierung: Die momentan populärste technische Umsetzung solcher Modelle – die neuronale Netze – interessieren mich nicht um ihrer selbst willen, im Gegenteil: Obwohl ich nicht zur Fraktion der Technikpessimisten gehöre, sehe ich doch mit Sorge, wie mit rasender Geschwindigkeit eine Technologie verbessert wird, deren Disruptionspotential wir noch nicht einmal in Ansätzen verstehen. Wenn wir das Aufkommen von KIs auf Grundlage neuronaler Netze aber schon nicht verhindern können (und das werden wir nicht – es wäre die erste Technologie, die möglich wird und bei der sich dann die gesamte Menschheit darauf einigen würde, auf sie zu verzichten), dann sollten wir zumindest besser verstehen, was sie tut. Dieses Ziel hat sich das Teilgebiet der Explainable AI (XAI) gesteckt, und für mich ist es gleich aus zwei Gründen von Interesse: Zum einen, weil ich es für essentiell halte, dass wir das Innenleben einer Technologie, der wir bereits jetzt weitreichende Entscheidungen anvertrauen, wirklich verstehen. Und zum anderen, weil ich damit zumindest die Hoffnung verbinde, auch unser eigenes Denken besser verstehen zu lernen. Leider habe ich aber bereits feststellen müssen, dass es alles andere als leicht ist, hier noch den Anschluss an den Stand von Forschung und Entwicklung herzustellen – ob mir das im letzten Drittel meiner Berufstätigkeit noch gelingt?

Werkzeuge des Denkens

Problemlösendes Denken: Meine ursprüngliche Motivation beim Studium des „algorithmischen Denkens“ zielte ja darauf ab, das menschliche Problemlösen (insb. von neuen, komplexen Problemen) besser zu verstehen und auch darauf, Techniken zu finden, mit denen man es trainieren kann. Tatsächlich scheint dieses Wissensgebiet nach wie vor nicht sonderlich gut entwickelt zu sein: die gängigsten Modelle stammen aus den 1960er und 1970er Jahren, und Ratgeber „Wie löse ich komplexe Probleme“ finden sich bis heute nicht in den Regalen der (virtuellen) Buchhändler. Dabei dürfte diese Kompetenz mit dem Aufkommen von KIs künftig noch einmal stark an Bedeutung gewinnen, denn die Routineaufgaben, in die sich so viele Menschen dankbar zurückziehen, sobald sie ihre Ausbildung abgeschlossen haben, werden aller Voraussicht nach bald automatisiert werden.

Entscheidendes Denken: Wie schlecht unser Verständnis des problemlösenden Denkens entwickelt ist, kann man leicht erkennen, wenn man den Stand der Forschung mit dem zum entscheidenden Denken vergleicht. Hier gibt es einen sowohl deskriptiv („Wie Treffen Menschen Entscheidungen?“) als auch präskriptiv („Wie sollten sie Entscheidungen treffen?“) gut ausgebauten Kanon, der in den Fächern Entscheidungslehre und Spieltheorie unterrichtet wird, in hunderten Sach- und Fachbüchern beschrieben ist und in zahlreichen Anwendungsdisziplinen zum Einsatz kommt.

Lernen und Gedächtnis: Was das menschliche Lernen und Erinnern (und somit die Grundlagen für problemlösendes Denken) angeht, scheint die Situation kompliziert zu sein. Gerade die Neurowissenschaft hat hier u.a. dank verbesserter Messverfahren riesige Fortschritte gemacht, die aber von Teilen der Psychologie angezweifelt und von der Pädagogik weitgehend ignoriert werden. Als Außenstehender wird man das Gefühl nicht los, dass hier von ganzen Forschungscommunities in unverantwortlicher Form Besitzstände gewahrt werden, statt sich auf neue Erkenntnisse und Forschungsansätze einzulassen. Die bekannte These, dass sich neue Denkschulen erst durchsetzen können, wenn die Vertreter der alten Denkschulen verstorben sind, scheint sich hier zu bewahrheiten – mit der Folge, dass in Schulen und Universitäten kaum etwas von dem umgesetzt wird, was man eigentlich schon seit Jahrzehnten weiß.

Selbststeuerung: Zugegeben, dieses Thema scheint etwas abseits meines sonstigen Schwerpunkts des problemlösenden Denkens zu liegen. Ich habe aber eine ganze Reihe von Gründen, mich immer wieder damit zu beschäftigen – angefangen vom ganz persönlichen Kampf gegen schlechte und für gute Gewohnheiten über das Coaching von Studierenden bis hin zu eher philosophischen Fragen nach dem freien Willen. In jedem Fall beschäftige ich mich schon seit rund 30 Jahren mit Fragen der Selbststeuerung und beobachte mit Interesse, wie sich der Stand der Erkenntnis immer stärker weg von „Dann musst du dir halt mal einen Plan machen und ihn dann auch einhalten!“ und hin zu „Gewohnheiten sind erlerntes Verhalten, ändern kann man sie nur, indem man das neue Verhaltensmuster aktiv trainiert“ ändert. Und damit sind wir dann eben plötzlich doch ganz nah beim Thema „Lernen und Gedächtnis“…

Ausblick

Als ich diesen Blog gestartet habe, habe ich mir selbst versprochen, jeden Sonntag einen Beitrag hochzuladen. Im ersten Jahr hat das auch ganz gut geklappt, dann ist der Blog aber aus den im Januar beschriebenen Gründen ins Stottern geraten.

Dieses Versprechen des wöchentlichen Beitrags habe ich erneuert und hoffe daher, dass es ab jetzt wieder regelmäßiger etwas zu den oben aufgeführten Schwerpunktthemen zu lesen gibt. Ganz im Sinne des unter „Selbststeuerung“ Geschriebenen versuche ich hier also, für mich selbst eine gute Gewohnheit zu etablieren – und das gewissermaßen vor aller Augen…