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Wenn plötzlich der Groschen fällt

Insight Problems

In den letzten Tagen habe ich mich unter anderem mit sogenannten „Insight Problems“ beschäftigt. Dabei handelt es sich um solche Probleme, die man nicht einfach lösen kann, indem man eine bekannte Methode darauf anwendet (wie beispielsweise bei einer Rechenaufgabe). Man braucht ein Aha-Erlebnis, also einen wie auch immer gearteten Durchbruch (eben die Insight), um sie zu lösen.

Man kann sich dazu vorstellen, dass das Gehirn zu Beginn der Problemlösung eine Art mentalen Suchraum erstellt. Wie schon in den letzten Beiträgen beschrieben, sind verwandte Konzepte im Gehirn miteinander vernetzt; auf diese Weise wird gewissermaßen ein Graph aufgespannt, der dann durchsucht wird. Wird auf diese Weise keine Lösung gefunden, so spricht man von einem Impasse (einer Sackgasse).

Bei Insight-Problemen ist es üblicherweise so, dass man diesen mentalen Suchraum verändern muss, um zu einer Lösung zu gelangen. Durch eine andere Sicht auf das Problem können plötzlich falsche Wege wegfallen (und das Problem so übersichtlicher machen), neue Wege hinzukommen (und so neue Lösungen ermöglichen) oder die Wege neu angeordnet werden.

Eine Möglichkeit ist dabei die Constraint Relaxation. Der Gordische Knoten ist ein berühmtes Beispiel dafür: Angeblich hatte ein Orakel vorhergesagt, dass derjenige, der diesen Knoten lösen könne, die Herrschaft über Asien erringen würde. Natürlich haben es viele versucht, und alle sind gescheitert. Bis Alexander der Große die Idee hatte, den Knoten schlicht mit dem Schwert zu durchschlagen: Er hatte erkannt, dass der Constraint, an dem alle anderen gescheitert waren (nämlich dass es darum ging, den Knoten aufzubinden), gar nicht wirklich Teil der Aufgabenstellung war. Es ging schließlich nur darum, den Knoten zu lösen – davon, dass das Seil hinterher noch an einem Stück sein muss, war nirgends die Rede.

Ein anderes bekanntes Beispiel für Constraint Relaxation ist das Neun-Punkte-Problem, das man immer mal wieder in Rätselheften findet. Gegeben sind neun Punkte in der folgenden Anordnung:

Neun-Punkte-Problem

Die Aufgabe besteht nun darin, diese Punkte ohne den Stift abzusetzen durch vier zusammenhängende, gerade Linien zu verbinden. Wer das Problem nicht kennt, wird dabei typischerweise zunächst scheitern – es scheint keine Möglichkeit zu geben, mit weniger als 5 Linien auszukommen. Das Problem wird erst lösbar, wenn man sich von der Vorstellung löst, dass jede Linie an einem der Punkte beginnen und enden muss: Lässt man Linien zu, die über den „Rand“ des obigen Quadrats hinausgehen, so wird das Problem lösbar (siehe Anhang).

Im Alltag haben wir es erstaunlich häufig mit Problemen zu tun, die auf den ersten Blick nicht lösbar scheinen, bis man sich von Einschränkungen trennt, die man aufgrund der Ausgangssituation gemacht hat, die aber genau genommen gar nicht wirklich erforderlich waren. Im Folgenden will ich von einem Beispiel berichten, wo mir dies diese Woche selbst passiert ist.

Flipped Classroom

Auch aufgrund dessen, was ich in diesem Blog über den Sinn und Unsinn unserer derzeitigen Lehrmethoden geschrieben habe, habe ich mich immer mal wieder mit dem Prinzip des Flipped Classroom beschäftigt. Dieses invertiert die Rolle von Präsenz- und Heimlernen wie folgt:

  • In der klassischen Lehre wird in erster Linie der Stoff in Präsenz (z.B. in Form von Vorlesungen) vermittelt. Eingeübt wird er dann daheim. Auf diese Weise wird in der Vorlesung nur die unterste Stufe der Bloom’schen Taxonomie (siehe z.B. unter „Wer will wirklich Probleme lösen?„) durch den Dozenten gelehrt. Die oberen Stufen (also den anspruchsvolleren Teil) dagegen sollen sich die Lernenden dagegen selbst beibringen.
  • Beim Flipped Classroom geht man umgekehrt vor. Die Lernenden erhalten Lehrmaterial (z.B. Lernvideos oder Lehrbriefe), das sie daheim zur Vorbereitung des Unterrichts durcharbeiten. Der Unterricht selbst besteht dagegen in der Anwendung des Stoffes. Der Dozent fungiert hier nicht länger als Vortragender, sondern als Coach – er gibt Hilfestellungen, verbessert und motiviert.

Gerade in der jetzigen Zeit, in der viele Dozenten ihr Lehrmaterial aufgrund der Coronakrise ohnehin zur Online-Verwendung aufbereitet haben, scheint der Weg frei, stärker mit dem Flipped-Classroom-Modell zu arbeiten. Allerdings gibt es (zumindest an meiner Hochschule) ein erwartbares Problem: Viele Studierende kommen zwar regelmäßig an die Hochschule, investieren aber so gut wie keine Zeit in die Vor- oder Nachbereitung. Solche Studierende würde man in einem Flipped-Classroom-Modell sehr schnell abhängen – sie wären bereits nach wenigen Wochen mit dem Stoff so weit hintendran, dass sie von den gemeinsamen Übungen nicht mehr profitieren würden.

Daher habe ich es bisher trotz aller Begeisterung für den neuen Ansatz für unabdingbar gehalten, den Stoff doch in Präsenz vorzutragen – lieber habe ich Studierende, die dann eben nur Teile des Stoffs verstanden haben (weil sie nur in die Vorlesung kommen, aber daheim nichts machen), als Studierende, die überhaupt nichts verstanden haben (weil sie in den ersten beiden Wochen die Vorbereitung versäumt haben und dann den Rückstand nie mehr aufholen konnten).

Flipped Mastery

Diese Woche bin ich nun aber über das Konzept der „Flipped Mastery“ gestolpert, und dabei ist mir klargeworden, dass ich bei meinen Überlegungen zum Flipped Classroom von einer Beschränkung ausgegangen bin, die in Wirklichkeit für diese Lehrmethode überhaupt nicht existiert.

Beim Mastery Learning (das ebenfalls von Benjamin Bloom in den 1960er Jahren formalisiert wurde, obwohl es natürlich schon früher entsprechende Ansätze gegeben hat) stellt man sicher, dass der Lernende das Lernziel eines Themas wirklich erreicht hat, bevor er zum nächsten Thema weitergeht. Eigentlich macht das natürlich Sinn – ein Großteil unserer Schwierigkeiten mit inkrementellen Fächern wie Mathematik basieren ja gerade darauf, dass die Lernenden oft von jedem Thema nur einen Teil verstanden haben und dass die Lücken dann in ihrer Summe so übermächtig werden, dass ein weiterer Fortschritt fast unmöglich ist. Salman Khan von der Khan Academy verwendet hierzu in einem TED-Talk das Beispiel des Hausbaus: Wenn man sich beim Fundament mit 80% zufriedengeben würde und beim Erdgeschoss mit 75%, kann man sicher sein, dass das ganze Gebäude irgendwann einstürzt.

Beim Mastery Learning gilt daher die Grundregel: Jeder arbeitet so lange an dem Thema, wie er eben braucht, um es wirklich zu durchdringen. Erst dann wird zum nächsten Thema weitergegangen. Auf diese Weise dauert es zwar hier und da länger, aber die Fundamente sind überall vorhanden.

Nun ist natürlich der Flipped Classroom für diese Art der Lehre besonders geeignet, weil im Grunde (und hier lag mein Denkfehler, meine unnötige Beschränkung) ja nichts dagegen spricht, dass jeder in der gemeinsamen Übung an einem anderen Thema arbeitet. Wer etwas langsamer gestartet ist oder noch Grundlagen nacharbeiten musste, ist vielleicht noch bei Thema 2, während andere schon bei Thema 4 sind und ihren Kommilitonen schon selbst Hilfestellungen geben können. Und da der eigentliche Stoff ja in Form von Videos, Skripten o.ä. zeitlos zur Verfügung steht, kann der langsamere Student auch später noch den Stoff von Thema 4 aufarbeiten.

Natürlich gibt es bei einer solchen Form der Lehre noch sehr viele praktische Fallstricke zu beachten (Aufwand bei der Vorbereitung, Bewertung, Gruppenarbeit und Mitläufer, Kompetenz des Dozenten und vieles mehr). Auf diese werde ich vielleicht in einem zukünftigen Blogbeitrag eingehen. An dieser Stelle finde ich aber vor allem zwei Beobachtungen interesserant: Dass der Flipped Classroom ein geeignetes Mittel sein könnte, die hier immer wieder diskutierten Lernziele auf den höheren Ebenen der Bloom’schen Taxonomie (insbesondere das selbständige Problemlösen) zu erreichen. Und dass das Wissen, dass wir uns oft selbst unnötige Beschränkungen beim Lösen von Problemen auferlegen, nicht unbedingt dabei hilft, genau diesen Denkfehler auch zu vermeiden…

Anhang: Lösung des Neun-Punkte-Problems

Das Neun-Punkte-Problem kann beispielsweise wie folgt gelöst werden:

Lösung Neun-Punkte-Problem

Es sind verschiedene Lösungen möglich, sie alle erfordern jedoch, dass die Linien den durch die ursprünglichen Punkte definierten Bereich verlassen.

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