Zwei Jahre der Suche
Seit Anfang 2022 schleiche ich um eine Reihe von Themen herum, die auf den ersten Blick von meinem ursprünglichen Ziel, das menschliche Denken und Handeln mit den Mitteln eines Informatikers zu verstehen, wegzuführen scheinen. Ich will zunächst versuchen, diese Reise anhand einiger Bücher zu beschreiben, die mich in der Zeit beschäftigt haben, und damit eine Art roten Faden durch das Durcheinander in diesem Blog in den letzten zwei Jahren zu ziehen:
- Samuel Gershman – What Makes Us Smart. Dieses Buch markiert gewissermaßen den Abschied vom ursprünglichen Ziel des Blogs. Ich habe es gelesen, weil mich die gängigen Aussagen zur Entscheidungs- und Kognitionswissenschaft in ihrer Beschränktheit zunehmend frustriert haben. Gershman vertritt dagegen die These, dass die vermeintlichen Fehler unseres Denkens gar kein Bug sind, sondern ein Feature – wenn man akzeptiert, dass auch unser Gehirn nicht über unbegrenzte Ressourcen verfügt, sind sie gewissermaßen zwingend erforderlich. Als Nebeneffekt habe ich in diesem Buch auch erstmals von Informationskaskaden gehört, die mich zum nächsten Buch geführt haben.
- David Easley, Jon Kleinberg – Networks, Crowds, and Markets. Eigentlich war es nur das Kapitel über eben diese Informationskaskaden, die mich hierher gebracht haben. Doch dann war ich begeistert: In diesem Buch wurde aufgezeigt, dass man Informationsflüsse, Märkte, Kooperation oder Konkurrenz nur verstehen kann, wenn man die Netzwerke berücksichtigt, in die die jeweiligen Akteure eingebunden sind. Dazu wollte ich mehr wissen, doch als ich andere Bücher zu Netzwerktheorie las, sprang der Funke nicht mehr über – scheinbar hatten die Autoren hier genau die Mischung aus Theorie und konkreten Anwendungen getroffen, die für mich interessant war.
- Melanie Mitchell – Complexity: A Guided Tour. Stattdessen stolperte ich über das nächste Buch, das mich absolut begeistern konnte, indem es noch weiter rauszoomte: Jetzt waren Netzwerke nur noch ein Kapitel unter vielen, ein Werkzeug einer viel umfangreicheren Disziplin, die sich ganz allgemein mit komplexen Systemen beschäftigte. Ich traf viele „alte Bekannte“ wieder – Themen und Autoren, die mich zu irgendeinem Zeitpunkt fasziniert hatten, ohne dass mir jemals der Gedanke gekommen wäre, dass sie eigentlich zusammenhängen. Und überhaupt hatte ich doch gar keine Zeit, mich einem dermaßen umfangreichen Forschungsgebiet zu beschäftigen?
- Es folgten rund anderthalb Jahre, in denen ich zwischen verschiedenen Texten zu diversen Themen hin- und hergeschwankt bin (Bayes’sche Statistik, Spieltheorie, Komplexe Systeme, Kognition, Ethik, Blockchain, Metaverse…). Ein richtiger Trend wurde aber nicht mehr daraus, und ich hatte mehr und mehr das Gefühl, einer Chimäre nachzujagen – einem gefühlten Zusammenhang zwischen all diesen Themen, der aber vielleicht gar nicht wirklich existierte. Bis mich dann ausgerechnet ein Philosophiebuch einen Schritt weiterbrachte…
- Matthew B. Crawford – The World Beyond Your Head. Über dieses Buch, in dem der Philosophieprofessor und Motorradmechaniker (sic!) Crawford über die Wichtigkeit der Verbindung zur realen Welt für unser Denken schreibt, werde ich in den nächsten Wochen sicherlich noch einen eigenen Beitrag verfassen. Für die Diskussion hier geht es mir vor allem um die These, dass es auch beim Nachdenken über die Welt wichtig ist, die Anwendung auf die Wirklichkeit und den Abgleich mit derselben nicht aus den Augen zu verlieren. Diese These teile ich, aber sie zeigt mir auch, wie ich immer wieder in Gefahr bin, mich in den der Welt der reinen Gedankengebilde zu verlieren, wenn ich nicht aufpasse und mich immer wieder zur Rückkehr in die Praxis zwinge.
In der Folge habe ich das Thema „Blockchain“ von meiner To-Do-Liste genommen, weil mir klar wurde, dass ich auch nach Jahren der Beschäftigung damit keinerlei Interesse daran hatte, mich auch mal mit der praktischen Umsetzung zu beschäftigen.
Komplexe Systeme
Zunächst war es gewissermaßen nur meine Unfähigkeit, mich zwischen all den spannenden Möglichkeiten zu entscheiden, die mich wieder zu Büchern zu „Komplexen Systemen“ greifen ließ: Schließlich handelt es sich dabei gewissermaßen um die große Klammer, unter der sich viele meiner Lieblingsthemen wiederfanden (zugegeben, nach der gleichen Logik hätte ich auch „Kognitionswissenschaft“ wählen können, aber so ist es nicht gekommen).
Beim ersten Blättern in ernsthafteren Büchern zum Thema überkam mich aber schnell wieder der Frust: Hier waren schon wieder Leute auf der Suche nach der Weltformel – möglichst abstrakt, mit einem mathematischen Formalismus, der für einen Physiker vielleicht offensichtlich ist, der mir aber sehr fremd ist und der mich auch überhaupt nicht reizt.
Nun ist es aber ohnehin nicht so, dass ich mir ein solch riesiges Themengebiet in der vorhandenen Zeit noch zur Gänze erschließen könnte, dazu bräuchte ich mehrere Jahre des Vollzeit-Studiums, die mir natürlich nicht zur Verfügung stehen. Also muss ich sowieso auswählen, wo ich meine Schwerpunkte setze. Und die kann ich dann auch so wählen, dass sie meinen Stärken und Interessen entsprechen.
Außerdem kann ich die Gedanken beherzigen, die ich aus Crawfords Buch mitgenommen habe: Theorie als Selbstzweck ist problematisch, weil die schönsten Gedankengebilde (aka „Modelle“) nichts nützen, wenn sie die Wirklichkeit aus dem Blick verlieren. Daher ist es mir wichtig, künftig auch die Anwendung wieder stärker im Blick zu haben.
Netzwerke, Agenten, Spiele
Wovon werden wir nun also in nächster Zeit mehr in diesem Blog lesen? Ich habe mir drei Werkzeuge zur Untersuchung komplexer Systeme ausgesucht, mit denen ich mich schon in der Vergangenheit beschäftigt habe und die ich in Zukunft nicht nur vertiefen, sondern auch miteinander verknüpfen und in konkreten Projekten anwenden will:
- Dynamic Networks: Natürlich verstehe ich auch die Strukturen statischer Netzwerke, aber für sich genommen bringen sie wenig mit, was mich reizt. Interessant wird die Sache für mich erst, wenn die Netzwerke dynamisch werden – wenn sie ihre Struktur aufgrund von Entscheidungen, Umwelteinflüssen oder Zufallsprozessen verändern.
- Agent-Based Modelling: Diese Teildisziplin der Erforschung komplexer Systeme akzeptiert, dass man nicht alles als Formeln modellieren kann, und nutzt stattdessen Simulation als Werkzeug der Wahl. Das Fachgebiet ist noch vergleichsweise jung, weil es sowohl leistungsfähige Rechner als auch hinreichend große Datenmengen benötigt, um nützliche Aussagen treffen zu können.
- Algorithmic and Evolutionary Game Theory: Auch in der Spieltheorie gibt es vieles, was mich gar nicht so brennend interessiert – zu statisch, zu mathematisch oder schlicht zu linear. Aber in Kombination mit Netzwerken und Algorithmen gibt es zahlreiche Fragestellungen und Techniken, die gerade für einen Informatiker wie mich reizvoll sind, und die algorithmische sowie die evolutionäre Spieltheorie stehen schon lange auf meinem Lern-Wunschzettel.
Natürlich werde ich mir nicht verbieten, auch weiter nach oben (allgemeine Theorie komplexer Systeme), nach links und rechts (beispielsweise auf weitere Werkzeuge wie Algorithmik, Theoretische Informatik oder Informationstheorie) und in Anwendungsfelder (Soziale Netzwerke, Märkte, Informationsmanagement, neuronale Netze etc.) zu schauen. Aber der Schwerpunkt für das Jahr 2024 soll auf den obigen Disziplinen einschließlich ihrer Anwendung liegen. Ich könnte mir vorstellen, dass da so manches dabei ist, was auch für jemanden, der diesem Blog bisher etwas abgewinnen konnte, von Interesse ist.