Es ist schon wieder drei Monate her, dass ich im Beitrag „Problemlösen als Suchproblem“ das Modell von Newell und Simon vorgestellt habe. Dabei wird ein Suchproblem durch einen Suchbaum charakterisiert: Ich habe einen Startzustand (den Wurzelknoten), verschiedene Handlungsalternativen (die Kanten im Baum), verschiedene Zwischenzustände (Knoten im Baum) und schließlich einen oder mehrere Zielzustände unterschiedlicher Güte, die erreicht werden sollen.
Bounded Rationality
Als Beschreibung der Situation beim Lösen von Problemen ist dieses Modell sehr einleuchtend. In der praktischen Anwendung tritt dabei aber das Problem auf, dass der Suchbaum oft exponentiell wächst und daher schnell zu groß wird, um überblickt zu werden. So gibt es beispielsweise beim Schachspiel schon nach sechs Halbzügen (dreimal weiß, dreimal schwarz) rund 107 mögliche Stellungen, und die Zahl der denkbaren Stellungen im Spiel insgesamt wird auf über 1043 geschätzt – eine Zahl, die so riesig ist, dass man sich den zugehörigen Suchraum gar nicht mehr vorstellen kann.
Ein vollständiges Durchsuchen des Suchraums ist also nicht möglich – beim Schach, aber auch bei den meisten Alltagsproblemen, die man lösen möchte. Newell und Simon gehen daher von zwei Annahmen aus:
- Menschliche Entscheider suchen nicht nach optimalen Lösungen, sondern geben sich mit „zufriedenstellenden Lösungen“ zufrieden. Für dieses Verhalten prägte Herbert A. Simon den Begriff des Satisficings.
- Menschliche Entscheider verwenden keine vollständigen Suchalgorithmen (wie es ein Computer typischerweise tut), sondern setzen auf Intuition und Daumenregeln. Später kam hierfür der Begriff der Heuristik auf.
Aus diesen beiden Komponenten entstand das Konzept der Bounded Rationality – Problemlöser suchen meist nicht nach optimalen Lösungen (und sind dazu für gewöhnlich auch gar nicht in der Lage), sondern nur nach Lösungen, die ein bestimmtes Zufriedenheitsniveau mit einem bestimmten Aufwand erreichen.
Die Rolle der Intuition
Die Frage, nach welchen Regeln Satisficing und Heuristik bestimmt werden, ist damit aber natürlich noch nicht beantwortet. Eine zentrale Rolle bei menschlichen Entscheidern kommt dabei wohl der Intuition zu – dem unbewussten Wissen, welche Vorgehensweise am ehesten zum Erfolg führt und womit man sich zufriedengeben sollte.
Die Psychologie weiß inzwischen, dass unsere Intuition umso besser ist, je mehr Erfahrung wir in einem bestimmten Anwendungsgebiet haben. Entgegen der landläufigen Auffassung, dass man entweder Sachverstand oder eine gute Intuition benötigt, ist die Intuition also ein Werkzeug, das umso wirksamer ist, je mehr Sachverstand man hat. Sie ist keine Gabe, über die wir alle verfügen und die wir überall anwenden können, sondern ein Ergebnis von anwendungsbezogenem Training.
Die Erkenntnis, dass wir nicht in allem genügend Expertise für gute Intuitionen entwickeln können, hat auch ursprünglich zum Siegeszug der Algorithmen geführt. Denn diese gibt es schon seit Jahrtausenden – nicht, um Computer damit zu füttern, sondern um auch solchen Personen das Bearbeiten bestimmter Probleme zu erlauben, die nicht genügend Erfahrung besitzen, um selbständig eine Lösung zu finden. Für sie liefert der Algorithmus eine Schritt-für-Schritt-Anleitung, mit der auch eine Person mit geringem Sachverstand das Problem bearbeiten kann.
Das Expertenproblem
Der Siegeszug der Computer führt nun aber dazu, dass wir genau solche Personen zunehmend weniger brauchen. Ein Computer mag eine „deprimierend dämliche Maschine“ sein, aber er ist gut darin, eine Schritt-für-Schritt-Anleitung schnell und fehlerfrei auszuführen. Aufgaben, deren Lösung durch einen Algorithmus beschrieben werden können, werden daher immer häufiger von Maschinen gelöst.
Was mich wieder zu einem der Dauerthemen dieses Blogs bringt: Dem Unterricht bzw. der akademischen Lehre. Wie bereits mehrfach erwähnt, konzentrieren sich beide derzeit mehrheitlich auf das Lernen von Fakten und das Anwenden von Standard-Lösungsverfahren, also genau auf die Dinge, die der Computer eigentlich besser kann als wir Menschen. Besonders bedauerlich ist dabei, dass genau das von vielen Studierenden auch noch gefordert wird.
Die Notwendigkeit echter Problemlösungskompetenz dagegen wird zwar von manchen Professoren durchaus erkannt. Doch aus den unter „Probleme lösen lernen“ beschriebenen Gründen ist man oft nicht konsequent genug, die Lehre (und die Prüfungen) so umzustellen, dass die Mehrzahl der Teilnehmer eine realistische Chance hat, sie zu erlernen.
Suchräume und AD(H)S
Beim Lesen des Buches „Mit ADHS erfolgreich im Beruf“ von Heiner Lachenmeier ist mir übrigens eine interessante Verbindung zu AD(H)S aufgefallen. Lachenmeier charakterisiert ADS ausdrücklich nicht als Aufmerksamkeitsstörung (im Gegenteil, unter den richtigen Umständen neigen ADSler ja sogar zum Hyperfokussieren), sondern dadurch, dass ADSler dazu neigen, ihre Gedanken zu weit vom „vorgesehenen Weg“ schweifen zu lassen.
Das kann man ganz gut mit dem Suchraum-Modell erklären. Demnach würde ein ADSler dazu neigen, in seinem Denken weniger „bounded“ im Sinne der bounded rationality zu sein – sein Geist verfolgt auch Pfade, die untypisch sind und die manchmal auch nicht zum Erfolg führen. Der Nachteil ist, dass sein Verhalten so von dem des typischen Denkers abweicht und dass er manchmal selbst vermeintlich einfache Probleme nicht oder nur mit übermäßigem Zeitaufwand löst, weil er sich im Suchbaum „verlaufen“ hat. Der Vorteil ist dafür, dass er manchmal sehr kreative Lösungen findet, weil er Denkwegen folgt, die andere gar nicht erst in Betracht ziehen. Hinzu kommt – und dieser Punkt ist mir wirklich erst durch Lachenmeiers Buch aufgefallen – dass er viel mehr Übung darin hat, größere Suchräume zu bearbeiten. Auf diese Weise ist er (wenn er es schafft, seinen Fokus auf einem Thema zu halten) u.U. in der Lage, Probleme zu lösen, die sonst niemand lösen konnte.
Zugegeben, das ist reine Küchenpsychologie – ich habe keine Studien dazu durchgeführt oder Paper dazu gelesen. Aber es würde den hohen Anteil von ADS-Denkern sowohl unter Künstlern als auch unter erfolgreichen Wissenschaftlern erklären.
Ein offenes Problem
Aber so sehr ich mich für das Suchraum-Modell begeistern kann (für einen Informatiker ist wahrscheinlich alles, was mit Suchbäumen zu tun hat, automatisch reizvoll), so sehr wurmt mich, dass es sich eben nur um ein Modell handelt.
Es beschreibt zwar mathematisch korrekt, wie man ein Suchproblem strukturieren kann. Aber es beschreibt dummerweise nicht, wie unser Gehirn tatsächlich beim Lösen von Problemen vorgeht.
Zur Erinnerung: Unser Gehirn enthält zwar auch „Knoten und Kanten“ (nämlich Neuronen und Synapsen) wie ein Baum oder Graph, aber diese Neuronen entsprechen wohl kaum den Zwischenzuständen beim Lösen eines Problems. Mein Verständnis der „Hardware“ unseres Gehirns ist leider nicht so gut, wie ich es mir wünschen würde, aber je mehr ich mich damit beschäftige, desto mehr beschleicht mich der Verdacht, dass es den (Neuro-)Psychologen da nicht wirklich anders geht. Soweit ich verstanden habe, können wir trotz aller Forschung ganz elementare Fragen wie „Wie speichert unser Gehirn (physisch) eine komplexe Erinnerung?“ oder „Wie findet das Gehirn (physisch) eine Lösung zu einem Optimierungsproblem?“ genau genommen bis heute nicht beantworten. Es gelingt mir daher derzeit noch nicht, das Suchraum-Modell auf unser Modell des menschlichen Gehirns abzubilden.
Vielleicht liest ja ein Neuropsychologe oder KI-Experte mit und versorgt mich im Kommentarbereich mit hilfreichen Links, die meiner pessimistischen Einschätzung widersprechen. Aber bis dahin fürchte ich, dass das schöne Suchraum-Modell eben nur genau das ist: ein Modell.