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Intuition – zwischen den Extremen

Bauchentscheidungen

In den letzten Wochen habe ich das Buch „Bauchentscheidungen“ des international anerkannten Psychologen Gerd Gigerenzer gelesen. Das (populärwissenschaftlich geschriebene) Buch ist 2007 unter dem Titel „Gut Feelings“ erschienen und hat sich seither sehr erfolgreich verkauft, so dass ich mich gefreut hatte, endlich Zeit dafür zu haben.

Beim Lesen beschlich mich aber zunehmend der Eindruck, dass die Dinge hier der „Message“ zuliebe doch recht einseitig dargestellt werden. Schon der deutsche Untertitel („Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition“) lässt erahnen, dass Gigerenzer die menschliche Intuition in einem ziemlich positiven Licht sieht. Damit grenzt er sich ganz ausdrücklich von den Arbeiten der bekannten Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky ab, die in ihrer Forschung immer wieder Beispiele dafür geliefert haben, wie die menschliche Intuition völlig danebenliegen kann.

Der gemeinsame Feind: Der Erwartungsnutzenmaximierer

Als Informatiker stelle ich mir hier die (für Geisteswissenschaftler vielleicht gar nicht nachvollziehbare) Frage, wie angesehene Forscher zu derart unterschiedlichen Einschätzungen gelangen können. Denn die Alltagsbeobachtung sagt ja, dass beides richtig ist: In vielen Situationen kommen wir mit unserer Intuition ziemlich weit, in bestimmten Situationen dagegen versagt unser Bauchgefühl völlig.

Es sagt eine Menge aus über die lange in der Wirtschaftstheorie gepredigten Glaubenssätze, dass diese einfache Alltagsbeobachtung jahrzehntelang geleugnet wurde und dass man stattdessen ohne jede Evidenz behauptete, im Inneren jedes Menschen würden komplexe Optimierungsalgorithmen ablaufen, die uns zu „Erwartungsnutzenmaximierern“ machen. Jeder Mensch, so die These, würde aus den vorhandenen Informationen die für ihn und seine Ziele bestmöglichen Entscheidungen ableiten.

Nun zeigen sowohl die Ergebnisse Gigerenzers als auch die Ergebnisse von Kahneman und Tversky, dass dem überhaupt nicht so ist und dass Intuition ganz anders funktioniert. Allerdings nähern sie sich dem Problem von entgegengesetzten Seiten: Während Gigerenzer zu zeigen versucht, dass Intuition den formalen Algorithmen der klassischen Entscheidungslehre sogar überlegen sein kann, suchen Kahneman und Tversky nach Beispielen, bei denen das Gegenteil der Fall ist.

Extrempositionen

Ein Stückweit ärgert es mich, wenn ausgerechnet in Büchern, die eine große Leserschaft erreichen wollen, solche Extrempositionen bezogen werden. Denn natürlich glaubt weder Gigerenzer, dass die menschliche Intuition immer zu überlegenen Ergebnissen führt, noch sind Kahneman und Tversky davon überzeugt, dass sie immer daneben liegt. Die Wahrheit ist komplizierter, sie hat viel damit zu tun, wer welche Testfragen stellt und mit welcher Absicht.

Diese Situation kennen wir auch aus dem Alltag. Wenn ich möchte, dass mein Gegenüber meinen Test besteht, stelle ich eben einfache Fragen. Und so fragt Gigerenzer danach, welche von zwei Städten wohl größer ist – eine Frage, die deshalb auch mit Halbwissen vergleichsweise gut zu beantworten ist, weil die Antwort mit der Bekanntheit der Stadt korreliert ist. Daraus, dass Menschen diese Frage oft auch dann richtig beantworten, wenn sie die Größe der Stadt gar nicht kennen, folgert er, dass die Intuition (hier konkret: die sogenannte Rekognitionsheuristik) ein mächtiges Werkzeug ist. Doch was wäre, wenn man den gleichen Teilnehmern stattdessen die Frage gestellt hätte, welche der Städte älter ist oder welche südlicher liegt? Hier ist die Korrelation mit der Bekanntheit deutlich weniger ausgeprägt, und ich vermute daher, dass die Ergebnisse nicht annähernd so gut gewesen wären.

So aber wird der Eindruck erweckt, als könne es auf die Frage „wie intelligent ist die menschliche Intuition“ nur eine Antwort geben. Und das ist in einem solch komplexen Thema eine gefährliche Vereinfachung.

Die Folgen der Übertreibung

Die Probleme, die sich aus dem Argumentieren mit Extremen ergeben, kennen wir aus dem politischen Alltag seit Jahren – die Mitte, der Ausgleich, der Kompromiss gehen darüber immer mehr verloren. Und leider treffen wir auch in der Politik den Typ des Wissenschaftlers an, der nur seinen eigenen Standpunkt, sein eigenes Modell, seine eigene Prognose gelten lässt. Typischerweise entstammen diese Wissenschaftler einer Disziplin, in der eindeutige Wahrheiten gar nicht beweisbar sind, was aber durch umso bessere rhetorische Schulung oder größere Überzeugung ausgeglichen wird. Argumentiert wird mit Extremen; gemäßigte, vermittelnde oder gar zweifelnde Standpunkte wirken langweilig, passen nicht in einen Tweet und verkaufen sich weder in den Abendnachrichten noch als Buch.

Dem Vertrauen der Allgemeinheit in die Wissenschaft hat dies nicht gutgetan. Wenn (um ein aktuelles Beispiel zu nennen) die einen Wissenschaftler mit fast schon religiöser Hingabe einen harten, monatelangen Lockdown zur Bekämpfung der Corona-Pandemie fordern, während die anderen mit genau der gleichen Überzeugung jede Form von Lockdown als nutzlosen und gefährlichen Unfug zur Bekämpfung eines maßlos übertriebenen Problems bezeichnen, fragt sich der sprichwörtliche Mann auf der Straße natürlich, wieso er irgendwelches Vertrauen in diese Wissenschaftler haben sollte. Und dieser Zweifel an den Wissenschaft, ihren Methoden und Erkenntnissen wird in den letzten Jahren ja auch immer deutlicher ausgesprochen…

Die wahren Fragen

Was also kann die Wissenschaft tun? Bei aller Freude am Diskurs ist es wichtig, sich daran erinnern, dass Extrempositionen so gut wie nie die Wahrheit sind, sondern dass komplexe Sachverhalte es erfordern, dass man alle Seiten gleichermaßen beleuchtet.

Bei den oben genannten Autoren finden sich zwischen den Zeilen (und vor allem in ihren Forschungsarbeiten) natürlich auch genau diese Grautöne, die echte Wissenschaft auszeichnen. Und wir erkennen auch die Fragen wieder, die ein Algorithmiker instinktiv gestellt hätte:

  • Wie schwer ist das zu lösende Problem überhaupt?
  • Wie eindeutig ist die Aufgabenstellung definiert?
  • Wie vollständig sind die Informationen, über die die Person verfügt?
  • Wie wichtig ist die Qualität der Lösung?
  • Wieviel Zeit hat die Person zur Verfügung?
  • Welche Ressourcen (Denkleistung etc.) hat die Person zur Verfügung?
  • Hat die Person Erfahrung mit vergleichbaren Situationen?
  • Spielt der Zufall eine Rolle, und falls ja: sind die Wahrscheinlichkeiten bekannt?
  • Gibt es einen intelligenten Gegenspieler?

Anhand dieser Fragen wird hoffentlich deutlich, wie viele verschiedene Anforderungen es an eine gute Intuition gibt und auf wie viele Arten man ihre Qualität beurteilen kann. Ich wage – auch aus der Erfahrung der Informatik in diesem Bereich – zu behaupten, dass die Forschung hier noch ganz am Anfang steht. Jeder Schritt dabei ist wertvoll, aber er sollte nicht vorschnell als Teil einer universellen Wahrheit wie „vertrauen Sie ruhig öfter ihrem Bauchgefühl“ verkauft werden.

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