Heute möchte ich einmal von zwei Büchern berichten, die ich gelesen habe und deren Aussagen sich geradezu diametral widersprechen, obwohl beide (natürlich) jede Menge Studien zum Untermauern ihrer Thesen anführen.
The One Thing
Da war zunächst einmal vor einigen Jahren das (ziemlich berühmte) Buch „The One Thing“ von Gary Keller: Es vertritt die These, dass man am erfolgreichsten ist, wenn man sich im Großen wie im Kleinen stets nur auf eine Sache konzentriert. Man steckt also all seine Energie in ein einziges Projekt und tut stets das, was am Sinnvollsten ist, um in diesem Projekt den größtmöglichen Fortschritt zu erzielen.
Ich gebe zu: Die Vorstellung, so etwas tatsächlich durchzuziehen und dadurch mal so richtig was zu erreichen, wirkt auf mich im ersten Moment verführerisch. Vielleicht liegt das darin, dass ich jahrelang in einer anspruchsvollen Forschungscommunity unterwegs war, in der ich so manchen Wissenschaftler angetroffen habe, der genau so tickte. Diese Menschen haben der Forschung alles untergeordnet, haben zwölf und mehr Stunden des Tages mit Denken, Programmieren und dem Diskutieren über Denken und Programmieren zugebracht. Und sie sind auf diese Weise berühmt geworden. Andererseits habe ich auch Experten von Weltruf kennengelernt, die ganz anders waren – sie waren nebenher auch noch hervorragende Sportler, Musiker, Ehemänner, Familienväter,… Von „One Thing“ keine Spur – natürlich waren sie sehr gut, aber sie waren teilweise in erschreckend vielen Dingen sehr gut.
Für mich selbst hat das mit der Einen Sache jedenfalls nie wirklich funktioniert. Für mich ist die Welt viel zu voll von faszinierenden Dingen und Fragen und Projekten und Menschen, als dass ich es über mich bringen würde, alles bis auf ein einziges davon auszublenden. Ich habe mich aber schon beim Lesen des Buchs „The One Thing“ gefragt, ob der Autor das wirklich selbst so macht. Erklärt er wirklich seiner Frau und seinen Kindern, das „One Thing“ in seinem Leben sei nun mal seine Firma und alles andere (einschließlich sie) seien nur das Beiwerk, das idealerweise dazu da ist, sein „One Thing“ zu unterstützen?
10.000 Stunden zur Meisterschaft
In solchen und ähnlichen Zusammenhängen wird übrigens auch gerne die 10.000-Stunden-Regel zitiert (natürlich auch von Gary Keller), nach der man eben diese 10.000 Stunden Übung investieren müsse, um es in einer Disziplin zur Meisterschaft zu bringen. Wenn man das mal nachrechnet, sind das ziemlich viele Stunden – sie sind eigentlich nur zu erreichen, wenn man diesem Üben tatsächlich alles andere unterordnet.
Aber wenn man dann mal näher über die Sinnhaftigkeit dieser Aussage nachdenkt, kommt man ins Grübeln. Spielt die Begabung dabei überhaupt keine Rolle? Und wieso genau 10.000 Stunden? Wenn das auf wissenschaftlichen Studien basiert, ist doch eine derart runde Zahl recht unwahrscheinlich? Kann es sein, dass man hier einfach irgendetwas Einprägsames gewählt hat, so wie bei den 10.000 Schritten, die man angeblich täglich machen soll (und die von der Wissenschaft längt als Unsinn entlarvt wurden)? Oder bei den 100 Milliarden Euro Sondervermögen, mit der die Bundesregierung die Bundeswehr zukunftstauglich machen will und bei der sich auch sofort die Frage stellt, nach welcher sorgfältiger Prüfung des Bedarfs man von allen denkbaren Summen zufälligerweise genau auf 100 Milliarden gekommen ist?
Eine andere Frage, die sich mir hier gestellt hat, lautet: Was soll denn überhaupt „Meisterschaft“ sein? Ich tue mich mit dem Begriff zugegebenermaßen schwer. Wann genau bin ich denn ein Meister? Hier ist ja wohl kaum ein Handwerksmeister, ein MSc oder MBA gemeint, sondern jemand, der sein Metier wirklich beherrscht. Aber wann genau ist das denn in der wirklichen Welt der Fall? Kann man das messen? Und falls ja, wie? In meiner eigenen Forschungsdisziplin – der Kryptologie – wüsste ich nicht, wie man das machen wollte. Bin ich ein Meister, wenn ich in einem winzigen Teilbereich alles kann? Wenn ich in der Breite gut bin, aber in jedem Teilgebiet auf Spezialisten angewiesen bleibe? Und falls letzteres, wie gut genau muss ich dann in der Breite sein? Genügt theoretisches Wissen? Muss ich es auch implementieren können? Oder muss ich mich gar (was ja einige Forscher rigoros ablehnen) mit dem auseinandersetzen, was die wirkliche Welt aus meiner schönen Theorie macht und was sie eigentlich von uns Forschern bräuchte?
Wenn ich mir die Kryptologen anschaue, die ich selbst als Meister ihres Fachs ansehen würde, dann sind ihre Kompetenzen extrem unterschiedlich. Aber bei einem bin ich mir sicher: Sie sind nicht genau in dem Moment zum Experten geworden, als ihre 10.000 Stunden des Übens vorbei waren. Oft wächst ihre Expertise vielmehr von innen nach außen – sie waren zunächst (und zwar sehr schnell) Meister in einem schmalen Bereich, und dann wurde der Bereich, den sie gemeistert hatten, immer größer.
Range
Nun bin ich kürzlich über das Buch „Range“ von David Epstein gestolpert, das sich ganz rigoros gegen Thesen wie die von Gary Keller ausspricht und stattdessen das Loblied des Generalisten singt.
Auch er betrachtet das Beispiel mit den 10.000 Stunden, richtet aber das Brennglas darauf, wo diese Zahl herkommt. Wie sich herausstellt, wurden die entsprechenden Studien mit Musikern gemacht, also in einem extrem stark spezialisierten Bereich, in dem es eben keine andere Möglichkeit gibt, die Aufgabe (= herausragende Musik zu machen) zu lösen, als unablässig zu üben. Und in dem es auch tatsächlich möglich ist, so etwas wie Meisterschaft halbwegs sachlich zu beurteilen.
Epstein argumentiert nun, dass die Spezialisierung nur dort Sinn macht, wo genau ein solcher eng definierter Anwendungsbereich vorliegt. In der wirklichen Welt ist dies aber relativ selten der Fall, so dass es für die meisten Menschen viel mehr Sinn macht, nicht alles auf eine Karte zu setzen, sondern sich breit genug aufzustellen, um auf all die Unwägbarkeiten reagieren zu können, die das Leben so mit sich bringt.
Der goldene Mittelweg (mal wieder)
Natürlich bin ich als jemand, bei dem die Sache mit der „Einen Sache“ ohnehin nie funktioniert hat, an dieser Stelle voreingenommen. Aber mir leuchtet die Logik in „Range“ auch deutlich mehr ein als die in „The One Thing“. Das liegt auch daran, dass ich die Faktenlage für den Alles-oder-Nichts-Ansatz ein wenig in Zweifel ziehe. Denn um tatsächlich wissenschaftlich zu belegen, welcher Ansatz im wirklichen Leben besser funktioniert, müsste man Studien durchführen, in denen man (beispielsweise) 1000 Firmengründer über einen langen Zeitraum begleitet und schaut, welcher Ansatz häufiger dazu führt, dass die Firma erfolgreich ist.
Häufig wird nämlich an dieser Stelle eher anekdotisch argumentiert: „Schau dir Bill Gates an, der hat auch alles in diese eine Firma gesteckt, und der hatte Erfolg. So macht man das also.“ Dabei gab und gibt es zu jeder Zeit zahllose Firmengründer, die genauso eine gute Idee hatten und genauso hart gearbeitet haben und die trotzdem nach 3 Jahren wieder am Anfang standen. Wenn man sich diejenigen herauspickt, die Glück hatten und am Ende ganz oben stehen, ist das so, als würde man den Typen, der viermal hintereinander beim Roulette auf die richtige Zahl gesetzt und so die Bank gesprengt hat, als Rollenmodell für eine gute Strategie im Casino hinstellen.
Letztlich führen mich solche Überlegungen immer wieder zu einer Beobachtung zurück, die ich in diesem Blog schon mehrfach angesprochen habe: Es werden für meinen Geschmack zu oft extreme Positionen als der Weisheit letzter Schluss verkauft. So sehr wir uns das vielleicht manchmal wünschen: abgesehen von wenigen, meist künstlich erzeugten Nischen ist das Spiel des Lebens viel zu komplex, um mit einfachen Wahrheiten erklärt oder gar mit einer einzelnen Bauernregel wie „setz immer alles auf eine Karte“ gewonnen zu werden.