Durch den Hinweis eines Kollegen bin ich über einen Artikel von Tim Bell mit dem Titel „CS Unplugged or Coding Classes?“ (Link) gestolpert, der in den Communications of the ACM veröffentlicht wurde. Darin beschreibt der Autor eine Diskussion, die in entsprechenden Kreisen wohl schon länger stattfindet und die mich ein Stück weit ratlos zurücklässt.
Zum Hintergrund: In den 1990er Jahren wurde Informatik teilweise ohne Computer unterrichtet, einfach weil es in Schulen gar keine keine entsprechende Hardware gab. Aber auch als die Ausstattung der Schulen besser wurde, wurden Ideen der Unplugged-Informatik beibehalten als Ergänzung zur Arbeit „an der Maschine“.
Extrempositionen, schon wieder
Das Überraschende für mich ist, dass die Diskussion über die Rolle der Unplugged-Informatik wohl teilweise von Extrempositionen aus geführt wird. Scheinbar gibt es ernsthaft Leute, die die Auffassung vertreten, man solle jede verfügbare Informatik-Minute auch am Computer zubringen. Und es gibt offenbar auch Leute, die der Meinung sind, man könne speziell die Ideen des Computational Thinking (auf das ich demnächst einmal ausführlicher eingehen muss) doch auch prima ganz ohne Computer vermitteln.
Das bringt mich zu einem Punkt, den ich in diesem Blog schon mehrfach angesprochen habe und der allmählich zu einer Art Mantra zu werden scheint: Ist es eigentlich tatsächlich so schwer, Mittelwege gehen? Muss wirklich jede Diskussion auf „alles oder nichts“ hinauslaufen? In welchem Bereich des wirklichen Lebens hätten denn solche Extrempositionen jemals funktioniert?
Käme beispielsweise jemand auf die Idee, das Schreinerhandwerk völlig ohne Kontakt zu Holz zu unterrichten? Oder besteht umgekehrt eine Schreinerlehre ausschließlich aus dem Hand-Werk, ohne Theorie, Material- und Werkzeugkunde oder künstlerischer Anwendung? Wird jemand ein herausragender Musiker, wenn er niemals ein Instrument spielt? Oder indem er endlos Partituren übt ohne sich jemals mit Theorie, Komposition, Geschichte oder der Wirkung von Musik auf Menschen zu beschäftigen?
Selbstwirksamkeit und Selbstkontrolle
Bell bezieht in seinem Artikel auch klar Position gegen eine ausschließliche Unplugged-Informatik. Sein Hauptargument dabei ist, dass das tatsächliche Arbeiten mit dem Computer den Schülern das Gefühl gibt, tatsächlich etwas erschaffen und verändern zu können – die berühmte Selbstwirksamkeit, ein Aspekt, der leider in allzu vielen Bereichen der Schule zu kurz kommt.
An dieser Stelle sei mir ein kleiner Exkurs erlaubt. Ich liebe den TEDx-Talk der großartigen Temple Grandin, in dem sie verschiedene Arten zu denken diskutiert und wie die Schule nicht diese jeweiligen Stärken fördert, sondern den durchschnittlichen Schüler, der ein bisschen von allem kann, bevorzugt. Vor allem aber betont sie auf ihre unnachahmliche Art, dass Selbstvertrauen und die Fähigkeit, Dinge zu erschaffen, nur entstehen, wenn wir aus Erfahrung gelernt haben, dass wir einen Unterschied in der realen Welt machen können. Ein Schulsystem, das Kindern diese fundamentale Erfahrung weitgehend vorenthält, hält sie genau wie ich für eine Katastrophe.
Vor diesem Hintergrund ist die praktische Arbeit mit dem Computer tatsächlich eine der wenigen, die Schülern und Studenten heutzutage überhaupt offenstehen. Darauf zu verzichten (aus welchen Gründen auch immer) beraubt sie der Möglichkeit, wenigstens an dieser Stelle einmal kreativ zu werden, etwas Konkretes, Funktionierendes zu erschaffen und nicht allein der Welt des Abstrakten zu verbleiben.
Ich persönlich schätze aber auch noch eine andere Eigenschaft des Computers in der Ausbildung, und zwar auch dann, wenn das Ziel gar nicht Informatik, sondern „nur“ Computational Thinking heißt: Der Computer ist ein unbestechlicher Schiedsrichter. Er lässt sich auf keine Diskussionen ein, ob die eigene Lösung nicht eigentlich doch brillant ist (und nur der Lehrer zu ignorant, um diese Brillanz zu erkennen) – wenn das Programm nicht läuft oder nicht das tut, was man erwartet hat, dann hat man etwas nicht verstanden und muss so lange weitermachen, bis man den Fehler gefunden hat. In der Informatik-Ausbildung ist das ein Grund, warum manche das Programmieren nicht mögen – es nimmt ihnen die Ausreden und zwingt sie, sich mit dem Thema wirklich so lange auseinanderzusetzen, bis sie den Durchbruch geschafft haben.
Kritische Leser mögen einwenden, dass das ein wenig nach konvergentem Denken klingt, also danach, dass man die eine, richtige Antwort finden soll und dass Kreativität dabei eher fehl am Platz ist. Das ist aber ein weit verbreitetes Missverständnis. Für jedes echte Informatik-Problem gibt es (beweisbar) unendlich viele Lösungen, und das Entwickeln einer guten und effizienten Lösung ist tatsächlich in den meisten Fällen eine kreative Tätigkeit, die in den Bereich des divergenten Denkens fällt. Das bedeutet aber nicht, dass man sich bei der praktischen Umsetzung Schlampigkeit erlauben darf, was die Programmierung übrigens mit dem Kunsthandwerk gemeinsam hat: Wenn ich mein Werkzeug nicht beherrsche, kann ich meine kreativen Ideen eben nicht umsetzen. Und eine Idee, die in der praktischen Umsetzung nicht funktioniert, ist eben doch nicht genial, sondern nur ein Traumgebilde.
Damit schließt sich übrigens auch der Kreis zum Mastery Learning, das ich an anderer Stelle bereits diskutiert habe. Es sollte nicht das Ziel von Ausbildung sein, alles mal angesprochen, aber nichts wirklich verstanden zu haben. Die Arbeit am Computer ist in besonderer Weise dazu geeignet, dem Lernenden ein Mittel zur Selbstkontrolle an die Hand zu geben. So kann er sich eine Arbeitsweise aneignen, bei der ein Thema wirklich verstanden wird – es muss verstanden werden, sonst läuft das Programm nicht.
Zusammenfassend würde ich daher davon ausgehen, dass der Unterricht in Informatik (und auch Computational Thinking) davon profitiert, wenn man den Mittelweg geht, d.h. sowohl Unplugged-Elemente als auch Programmierung einsetzt. Und die Studien, die im Artikel von Tim Bell zitiert wird, deuten darauf hin, dass diese Intuition richtig ist. Zum Glück.