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Warum Auswendiglernen und Theorie so beliebt sind

Bereits im letzten Eintrag habe ich ja diskutiert, dass Informationen im Gehirn nur so lange nützlich sind, wie sie gut mit anderen Informationen vernetzt sind. Beim Lesen in der kognitionswissenschaftlichen Literatur ist mir aufgefallen, dass sich daraus noch zwei weitere Beobachtungen ergeben, die die meisten von uns aus Schule und Alltag zur Genüge kennen:

  • Auswendiglernen ist bei vielen Studierenden beliebter als Anwenden
  • Theorie ist bei vielen Dozenten beliebter als Praxis

Vom Reiz des Auswendiglernens

Der Grund ist erneut die Art, wie unser Gehirn mit Konzepten arbeitet. Psychologen gehen davon aus, dass ein Konzept in Form eines sogenannten Schemas im Gehirn gespeichert wird. Dieser Vorgang fällt dem Gehirn vergleichsweise leicht. Dagegen ist es für das Gehirn vergleichsweise aufwändig, ein Schema mit anderen Schemata zu verknüpfen. Genau das müsste man aber tun, damit es gut wieder aufzufinden ist und somit nützlich wird.

Wenn man sich das vor Augen hält, wird klar, warum das Bulimielernen eine solch beliebte Strategie für die Prüfungsvorbereitung ist. Es ist kognitiv vergleichsweise leicht und kann daher auch dann noch geleistet werden, wenn man eigentlich kognitiv überfordert ist oder schlicht zu wenig Zeit hat. Die Informationen werden als reine Fakten ohne allzuviele Verknüpfungen zum restlichen Wissen abgespeichert. Für die Klausur reicht das, weil all diese Informationen um den gemeinsamen Kern „Klausur“ herum organisiert sind und in diesem Kontext auch wieder aufgefunden werden können. Leider gehen sie aber anschließend wieder verloren, weil sie kaumVerbindungen zum übrigen Wissen aufweisen und daher auch in Zukunft nicht mehr genutzt werden können.

Sinnvoll wäre es daher, viel stärker darauf zu setzen, das Erlernte auf möglichst viele Arten zu betrachten und zu nutzen. Das dauert zwar länger, verankert das Wissen aber solide mit vielen Verbindungen zu anderen Konzepten im Gehirn und sorgt dafür, dass es später auf mannigfaltige Weise wieder abgerufen werden kann. Leider funktioniert das aber nur, wenn (1) die Stoffmenge so überschaubar gehalten wird, dass man sich mit jedem Konzept auch ausführlich beschäftigen kann, und (2) mit dem Lernen nicht erst zwei Wochen vor der Klausur begonnen wird.

Vom Reiz der Theorie

Aber auch über die Professoren (zur Erinnerung: der Autor ist auch einer) kann man aus dem Umgang mit Schemata etwas lernen. Wie alle Theoretiker sind sie so ausgebildet, dass sie vor allem mit Modellen arbeiten. Modelle sind potentiell sehr mächtige Schemata, weil sie (mit etwas Glück) auf eine Vielzahl von Situationen angewandt werden können. Allerdings gilt natürlich alles, was bereits oben und in vorangegangenen Blogbeiträgen geschrieben wurde: Ein Modell ist nur dann nützlich, wenn es hinreichend gut vernetzt wurde, so dass es aufgefunden wird, wenn es benötigt wird.

Leider neigen Theoretiker dazu, die Theorie vor allem mit anderen Theorien zu verknüpfen. Das führt zu dem bereits früher beschriebenen Phänomen, dass selbst Experten übersehen, dass Wissen (Modelle, Vorgehensweisen, …) aus ihrem Spezialgebiet auch in einem anderen Feld eingesetzt werden können. Wichtig wäre also, die Theorie breit mit so vielen Konzepten wie möglich zu verknüpfen, auch und gerade solchen, die eher im Alltag oder in der Berufspraxis angesiedelt sind.

Es gibt aber noch ein anderes Problem, das von Maslow mit dem berühmten „Law of the Instrument“ beschrieben wurde:

I suppose it is tempting, if the only tool you have is a hammer, to treat everything as if it were a nail.

Abraham Maslow, 1966

Das Arbeiten mit Modellen birgt immer auch das Risiko, dass man anfängt zu glauben, dass die Welt sich wirklich so verhalten würde wie von den Modellen vorhergesagt. Wer genügend Kontakt mit der Praxis hat, weiß eigentlich immer, dass dem nicht so ist: Das Modell liefert eine oberflächliche Beschreibung, kann aber nie alle Phänomene der wirklichen Welt erklären.

Wer daher regelmäßig praktische Probleme bearbeitet, der kennt die Ausnahmen und Besonderheiten der wirklichen Welt. In seinem Kopf findet sich daher nicht nur das Schema für das grundlegende Modell, sondern davon abgeleitet auch das Schema für den Spezialfall, in dem das Modell nicht oder nicht gut genug funktioniert. Und wahrscheinlich (bei genügend Erfahrung) auch für den Spezialfall des Spezialfalls…

Das Erlernen all dieser Schematas erfordert natürlich deutlich mehr Aufwand (und Übung) als das Entwickeln eines einzigen Modells. Und so mag es nicht überraschen, dass so mancher Theoretiker die Welt lieber durch die Brille seines Master-Modells betrachtet und alle Abweichungen zu Messfehlern erklärt, als sich in die Niederungen der Praxis zu begeben und sich dem kognitiv deutlich aufwändigeren Arbeiten mit Dutzenden von Sonder- und Spezialfällen auszusetzen…

Lessons learned

Auch wenn der Blog jetzt schon mehrfach um das gleiche Thema gekreist ist, möchte ich hier noch einmal in Erinnerung rufen, worum es bei Beiträgen wie diesen im Kern geht: Wenn man die Erkenntnisse der Kognitionsforschung ernst nimmt, dann muss man beim Aufbau von Kompetenzen (also zum Beispiel in Schule und Hochschule) dafür sorgen, eine gute Mischung von Theorie und Praxis zu schaffen. Die Theorie hat den Vorteil, dass sie Modelle erschafft, die auf sehr viele Situationen angewandt werden können. Und die (möglichst breite) Praxis sorgt dafür, dass diese Modelle auch in möglichst vielen Situationen erinnert werden und hinreichend ausdifferenzt sind, um von tatsächlichem Nutzen zu sein.

Es sollte einleuchten, dass dieses kombinierte Erlernen von Theorie und Praxis länger dauert als die gängige Vorgehensweise, möglichst große Stoffmengen in möglichst kurzer Zeit zu pauken. Andererseits bietet weniger, dafür aber wirklich beherrschtes Wissen aber letztlich mehr Nutzen als viel Stoff, den man theoretisch mal irgendwann (auswendig) gelernt hat, im Bedarfsfall aber weder auffinden noch anwenden kann.

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