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Warum das Lösen neuer Probleme schwierig ist

Ich habe mir in diesem Blog ja schon mehrfach Gedanken darüber gemacht, warum sich die meisten Menschen so schwer damit tun, neue Probleme zu lösen. Im Folgenden will ich einmal einen ersten Blick darauf werfen, was ich als Nicht-Psychologe beim Lesen von Psychologie-Büchern verstanden zu haben glaube.

Übertragen von Lösungen

Zunächst einmal: Das Narrativ vom Erfinder, der aus dem Nichts heraus brillante Ideen hat, ist ein Mythos. Nichts deutet darauf hin, dass wir dazu in der Lage sind. In Wahrheit lösen wir Probleme, indem wir auf dem Aufbauen, was andere vor uns gedacht (und was wir verstanden) haben. Wir können dann existierende Ideen und Lösungen geringfügig modifizieren, neu kombinieren oder auf neue, nicht zu weit entfernte Probleme übertragen. Aber wir stehen, um es mit den berühmten Worten Isaac Newtons zu sagen, immer auf den Schultern der Riesen, die vor uns zum Wissensschatz der Menschheit beigetragen haben.

Das Problem beim Anwenden bekannter Ideen auf neue Probleme ist aber, dass wir umso schlechter darin sind, je weniger sich diese Probleme an der Oberfläche ähneln. Eine berühmte Aufgabenstellung sieht wie folgt aus:

Tumorproblem: Ein Patient leidet unter einem Tumor. Diesen könnte man im Grunde genommen durch Bestrahlung zerstören. Das Problem ist aber, dass die Strahlung auch das gesunde Gewebe zwischen der Strahlenquelle und dem Tumor zerstören würde. Eine schwächere Strahlung wäre für das Gewebe ungefährlich, würde aber auch dem Tumor nicht schaden. Wie kann der Arzt vorgehen, um den Tumor trotzdem zu bekämpfen?

K. Duncker (1945): On Problem Solving

Denken Sie einen Moment darüber nach – können Sie das Problem lösen? Falls nicht: wie sieht es mit dem folgenden Problem aus?

Festungsproblem: Ein Diktator beherrscht von einer Festung aus das Land. Zahlreiche Wege führen zu dieser Festung, allerdings sind sie so vermint, dass nur kleinere Gruppen darüber marschieren können, ohne die Bomben auszulösen. Nun ist es den Rebellen gelungen, eine ansehnliche Armee an der Grenze zusammenzuziehen. Diese Armee könnte die Festung einnehmen, aber wie soll sie dorthin gelangen, ohne von den Minen zerrissen zu werden?

M.L. Gick und K.J. Holyoak (1980): Analogical Problem Solving

Die meisten Menschen tun sich mit der Lösung des zweiten Problems deutlich leichter (die Lösung finden Sie im Anhang dieses Beitrags). Dabei sind beide Probleme strukturell gleich. Warum also kennen viele Menschen eine Lösung für ein Problem, können aber gleichzeitig ein ganz ähnlich gelagertes Problem nicht lösen?

Das Problem der Auffindbarkeit

Der Grund scheint in der Organisation unseres Gehirns – genauer gesagt unseres Gedächtnisses – zu liegen. Wir speichern Informationen assoziativ: Jedes Konzept in unserem Kopf wird mit vielen anderen Konzepten verknüpft, die irgendetwas damit zu tun haben. So wäre das Konzept „Auto“ verknüpft mit Bildern von Autos, mit seinen Komponenten (Räder, Karosserie, Lenkrad, …), mit anderen Fortbewegungsmitteln (Lkw, Motorrad, …), mit Infrastruktur (Straße, Parkplatz, Tankstelle, …), mit Erlebnissen (in Urlaub fahren, zur Arbeit fahren, …) usw.

Wenn unser Gehirn jetzt eine Information sucht, die etwas mit einem Auto zu hat, dann klappert es gewissermaßen diese Verbindungen ab. Existiert eine Verbindung, wird die Information gefunden. Wenn nicht, geht es noch 1-2 Schritte weiter (also beispielsweise von Auto über Lkw zu Container), aber wenn das gesuchte Konzept zu weit entfernt ist, wird es nicht gefunden.

Im Falle von Problemlösungen kann dies leicht zu Problemen führen. Nicht nur werden Konzepte als verwandt erkannt, die es gar nicht sind (Blut ist rot, Rotwein ist rot, also ist Rotwein gut für die Durchblutung). Auch erkennt das Gehirn zwei strukturell ähnliche Probleme nicht als verwandt, wenn sie keine solch oberflächlichen Gemeinsamkeiten aufweisen. Sie befinden sich an zwei völlig unterschiedlichen Stellen in unserem Vorstellungsraum; die Verwandtschaft wird dadurch schlicht nicht bemerkt.

Erinnern Sie sich noch an das Feynman-Beispiel aus dem Beitrag „Lernen von den Großen“? Der Physiker hat seine Kommilitonen genarrt, indem er Wissen, über das sie eigentlich alle verfügten (das Konzept eines lokalen Tiefpunkts aus der Analysis) auf eine andere Situation (die Betrachtung eines Kurvenlineals) übertrug. Dabei handelt es sich um ein Beispiel für das obige Problem: Im Gehirn der Studierenden gab es schlicht keine Verknüpfung zwischen den beiden Konzepten, also übersahen sie, was doch eigentlich hätte offensichtlich sein sollen.

Und nun?

Was also kann man nun tun, um seine Fähigkeit zum Problemlösen zu verbessern? Zwei Besonderheiten fallen mir beim Lesen von Biographien der wirklich erfolgreichen Denker und Problemlöser (wie eben beispielsweise Newton oder Feynman) immer wieder auf:

  • Sie verfügen über ein großes Arsenal von Wissen, insbesondere von Modellen. Diese Modelle haben wie viele Abstraktionen den Vorteil, dass man sie auf eine Vielzahl von Situationen anwenden kann.
  • Zudem verankern sie diese Modelle im Gedächtnis, indem sie sie auf so viele realweltliche Szenarien wie möglich anwenden: Sie ziehen immer wieder Verbindungen zwischen diversen Phänomenen in der wirklichen Welt.

Wenn wir zum obigen Problem der Auffindbarkeit zurückkehren, tun sie also Folgendes: Sie legen ein Konzept (hier: ein Modell) in ihrem Kopf an, das zu möglichst vielen Situationen in der wirklichen Welt passt. Indem sie dieses auch immer wieder auf praktische Probleme und Beobachtungen anwenden, sorgen sie dafür, dass das Modell viele Verknüpfungen zu passenden Konzepten aufweist und entsprechend leicht aufgefunden werden kann.

Ein Beispiel: Wenn man sich (wie es in vielen neueren Elektronik-Lehrbüchern empfohlen wird) die Elektronen in einer Leitung als eine Sammlung von Wassertropfen vorstellt, die aufgrund von Druck (Spannung) angetrieben werden, dann hat man das Konzept des elektronischen Stroms mit dem Konzept von Wasser verknüpft. Da „Wasser“ in unserem Gehirn mit sehr vielen anderen Konzepten verknüpft ist, wird so auch das Konzept „Strom“ leichter auffindbar – auch von anderen Konzepten aus, die ebenfalls eine Verbindung zu „Wasser“ aufweisen.

Natürlich betreibe ich hier noch ein Stück weit Küchenpsychologie. Ich bin kein Experte, sondern schildere, wie ich das, was ich in Psychologiebüchern gelesen habe, verstehe. Aber zumindest passen diese Überlegungen gut zu einer ganzen Reihe von Beobachtungen, die ich im Umgang mit dem Lösen von Problemen (sei es durch mich oder durch andere) gemacht habe. Es wird daher sicherlich nicht der letzte Beitrag zum Thema „Probleme lösen lernen“ sein. Und falls ich die Vorstellungen, die ich derzeit dazu habe, wieder revidieren muss, dann verspreche ich, ehrlich dazu zu stehen.

Anhang: Lösung der Probleme

Sind Sie darauf gekommen? Das Festungsproblem lässt sich durch die Moltke-Taktik „Getrennt marschieren, vereint schlagen“ lösen. Man teilt die Armee der Rebellen auf, marschiert getrennt und versammelt sich dann vor der Festung zur Schlacht.

Das Tumorproblem ist strukturell sehr ähnlich: Es kann gelöst werden, indem man mit mehreren Strahlenquellen arbeitet, die Strahlung von erträglicher Intensität absondern. Diese werden so angeordnet, dass sie sich am Punkt des Tumors treffen, wo sich ihre Wirkung addiert. Während das gesunde Gewebe also nur niedrige Strahlung aushalten muss, wird der Tumor mit hoher Strahlenlast beschossen und somit zerstört.

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