Heute will ich mal einen großen und vielleicht etwas mutigen Bogen schlagen: Von der Entwicklung des Spielzeugs seit meiner Jugend hin zu den auffälligen Veränderungen, die wir als Hochschullehrer bei jungen Menschen erleben.
Der Kosmos-Experimentierkasten „Elektronik“
Die folgenden Bilder zeigen die populären Elektronik-Baukästen der Firma KOSMOS – einmal aus dem Jahr 1983 und einmal aus dem Jahr 2020. Zufälligerweise habe ich beide noch hier liegen und kann daher den Artikel mit ein paar Fotos beginnen:



Ich weiß nicht, ob Ihnen dabei das gleiche ins Auge springt wie mir? Beim früheren Experimentierkasten (oben im Bild) kam man in Kontakt mit den echten Bauteilen, wie sie auch in der realen Elektronik zum Einsatz kommen. Man musste Widerstände, Kondensatoren, Transistoren und Drahtbrücken zurechtbiegen, das Bestimmen der Teile (z.B. den Farbcode der Widerstände) lernen und sie auf einem Breadboard montieren, genau wie man es noch heute beim Bau eines Prototypen im Labor macht. Die Produktion der Teile war für den Hersteller sehr günstig, weshalb die Packung auch sehr viele davon enthielt. Und wenn die mal kaputt gingen oder man eine Schaltung bauen wollte, die in der Anleitung nicht vorgesehen war, konnte man für 5 Pfennig ein Ersatzteil kaufen.
Im heutigen Experimentierkasten ist dagegen alles idiotensicher in Plastikblöcke eingeschweißt. Man kommt gar nicht mehr in Berührung mit dem tatsächlichen Bauteil, das Look-and-Feel ist so, als würde man die Schaltung am Computer zusammenklicken. Die Produktion ist aufwändig, die Packung enthält daher nur wenige Teile, und Ersatz oder Ergänzungen für eigene Schaltungen sind nicht zu bekommen.
Warum interessiert mich das? Ich mag das hohe Lied „Früher war alles besser“ normalerweise nicht besonders gern, aber an dieser Stelle stimmt es leider. Früher hat man Heranwachsende, die sich mit einem Experimentierkasten beschäftigt haben, wie kleine Erwachsene behandelt – die Ingenieure von morgen – und wir sind uns auch so vorgekommen. Heute behandelt man sie dagegen wie kleine Kinder, die vor dem Kontakt mit der Wirklichkeit beschützt werden müssen, indem man die tatsächlichen Bauteile bis zur Unkenntlichkeit wegabstrahiert. Dass das, was sie da bauen, irgendeinen Bezug zur realen Welt haben könnte, ist nicht mehr zu erkennen.
Nun unterstelle ich einem Hersteller wie Kosmos ja nicht, dass sie dumm sind, im Gegenteil. Diese Umstellung von „Zwölfjährige sind fast schon Erwachsene“ zu „Zwölfjährige sind eigentlich auch nur kleine Kinder“ wird seine Gründe im Markt haben: technisch anspruchsvolles Spielzeug für diese Altersgruppe verkauft sich nicht mehr. Ein Phänomen, das man ja auch anderswo beobachten kann.
Das Sterben des Technik-Spielzeugs
Ein anderer Klassiker, dem meine Generation hinterhertrauert, ist das Yps-Heftchen. Mit diesem Comic-Magazin, das im Jahr 1975 erstmals erschien, wurde immer auch ein Bastelprojekt mitgeliefert, und gerade technisch interessierte Kinder gehörten zu den Stammkunden. Aber auch Yps wurde von der Zeit eingeholt: Während es Comichefte mit Spielzeugbeilage bis heute gibt (von Lego über Playmobil bis zu Dinosauriern oder Handyattrappen), wurde Yps wegen der stark gefallenen Absatzzahlen im Jahr 2000 eingestellt.
Die Liste lässt sich verlängern. So gibt es die Metallbaukästen, mit denen die Boomer-Generation noch aufgewachsen ist, schon lange nicht mehr im Massenmarkt. Und auch ihre Nachfolger wie etwa LEGO Technik verkaufen sich heutzutage in erster Linie an Erwachsene; Fischertechnik hat sich aufgrund der hohen Preise wohl schon immer eher an diese Zielgruppe gewandt. Und sogar die Robotik-Plattformen LEGO Mindstorms und LEGO Boost wurden inzwischen aufgegeben (der Nachfolger LEGO Spike existiert zwar noch, ist aber ziemlich kindisch, wird kaum beworben und ist überdies extrem teuer, so dass ich Zweifel habe, ob er sich am Markt halten kann).
Ein letztes Beispiel noch aus dem Ort, in dem ich jetzt wohne. Als wir hier hergezogen sind, haben wir irgendwann am Waldrand ein Gelände entdeckt, auf dem sich mehrere Baumhäuser befanden. Dazwischen gab es Kletterseile, Holzbrücken und am Boden Werkzeugschuppen, die ziemlich improvisiert aussahen. Auf mein Nachfragen stellte sich heraus, dass hier früher die Jugendlichen des Ortes ihre eigene Stadt hatten – unter Anleitung örtlicher Handwerker aus Holz, Nägeln, Seilen, Teerpappe etc. selbst gebaut und nach Schulschluss bewohnt. Aber dann ist irgendjemand auf die Idee gekommen, die Frage nach der richtigen Versicherung zu stellen, und die ist ja in Deutschland wichtiger als die Persönlichkeitsentwicklung von Heranwachsenden. Also wurde das Projekt eingestellt, das Grundstück wucherte zu, und inzwischen ist alles abgerissen worden.
Ist das denn ein Problem?
Und das bringt mich langsam zum Thema „Geist und Computer“ zurück. Denn natürlich kann man immer argumentieren, dass sich die Zeit weiterdreht und Altes durch Neues ersetzt wird. Ich habe aber inzwischen gewaltige Zweifel, dass diese Entwicklung gut ist, wenn die aktive Beschäftigung mit der wirklichen Welt ausschließlich durch die passive Beschäftigung mit virtuellen Welten ersetzt wird.
Natürlich war es auch früher nicht so, dass ganze Jahrgänge „Radios bauen“ oder „Motorräder frisieren“ als Hobby angegeben hätten. Aber irgendwelchen physischen Kontakt zur physischen Welt hatte eigentlich jeder Jugendliche, egal ob man nun in der Kellerwerkstatt gebastelt, ein Baum- oder meinetwegen auch nur Vogelhaus gebaut, im Garten gebuddelt, am Fahrrad rumgeschraubt, auf dem Bolzplatz gekickt oder in der Küche geholfen hat.
Vieles davon findet heute nicht mehr statt. Für viele Kinder und Jugendliche zerfällt der Tag mittlerweile in zwei Teile – die Beschäftigung mit den (möglichst weltfernen) Inhalten der Schule, bei denen etwa das korrekte Bilden des französischen Plusquamperfekts wichtiger ist als die Fähigkeit, die Sprache bei einem Frankreich-Besuch tatsächlich verstehen oder sprechen zu können, und den (ebenfalls möglichst weltfernen) Inhalten von Smartphone und Spielekonsole, die man für alles nutzt, aber nicht dafür, sich ein Anleitungsvideo anzuschauen, wie man seinen platten Fahrradreifen reparieren könnte. So man ein solches denn überhaupt hat und nicht von den besorgten Eltern mit dem Auto zu allen Terminen gefahren wird.
Im Ergebnis erleben wir viele junge Menschen beim Übergang zu Berufsausbildung oder Hochschule als stark verunsichert. Plötzlich und unerwartet stehen sie jetzt vor diesem Ding namens „wirkliches Leben“ und stellen fest, dass man sie 20 Jahre lang erfolgreich davor beschützt hat. Manche von ihnen schaffen es noch, das Ruder herumzureißen, aber wir erleben auch zahlreiche Fälle von vollständiger Überforderung und daraus resultierenden Depressionen. Inzwischen hat jede Hochschule, mit der ich zu tun habe, dieses Thema auf der Agenda, weil es sich eben um wirklich viele Fälle handelt.
Die Schuld wird da gerne bei den Covid-Lockdowns gesucht, aber ich fürchte, dass die Hauptursache die verlorenen Jahre der Kindheit und Jugend sind, in denen der Umgang mit der wirklichen Welt nicht geübt wurde. Vermeintlich selbstverständliche Fähigkeiten wie Selbststeuerung, Problemlösungskompetenz, Entscheidungsfähigkeit, Frustrationstoleranz oder Teamverhalten werden teilweise erst mit Anfang 20 erlernt – wenn es denn überhaupt noch klappt.
Ein Literaturtipp
Der Philosophieprofessor und Motorradmechaniker (!) Matthew B. Crawford liefert in seinem Buch „Die Wiedergewinnung des Wirklichen“ ein eindringliches Plädoyer dafür, dass wir uns unsere Welt wieder durch direkten Kontakt aneignen müssen, und er hat dabei nicht nur die Philosophie, sondern auch die Erkenntnisse der Neurowissenschaften auf seiner Seite.

Mich hat dieses Buch sehr nachdenklich gemacht, und ich halte den darin enthaltenen Appell für einen der wichtigsten unserer Zeit: Wir brauchen für unsere eigene geistige Gesundheit wieder mehr Kontakt mit der wirklichen Welt, mit ihren Widrigkeiten und ihren zahllosen Details, die sich nicht an die einfachen Modelle aus Medien und Wissenschaft halten. Der menschliche Geist ist gut darin, mit dieser chaotischen und widerspenstigen Welt umzugehen. Er braucht Haptik, sozialen Umgang und gelegentliche Widerstände – und die Selbstwirksamkeitserfahrung, die nur entsteht, wenn man diese Widerstände erfolgreich überwunden hat.
Ich schließe mich M. Crawford an: Wir sollten uns selbst diese Möglichkeiten zum Wachstum wieder häufiger bieten – und unseren Kindern erst recht.