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Geist und Computer

Wie bereits im Januar geschrieben, bin ich nach längerer Suche (und diversen Abschweifungen) mit meiner Arbeit wieder zum ursprünglichen Thema dieses Blogs zurückgekehrt. Die Bezeichnung „Algorithmisches Denken“ würde ich heute zwar nicht mehr verwenden (einfach deshalb, weil unser Denken im Kern gar nicht auf Algorithmen beruht), aber das Ziel bleibt das gleiche: Ich möchte den Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen menschlichem Denken und maschinellem Problemlösen nachspüren bzw. die Zusammenhänge zwischen beiden verstehen.

Dieses Themenfeld gehört ins Forschungsgebiet der Kognitionswissenschaft. Da diese Bezeichnung aber etwas sperrig ist (und das Forschungsgebiet in manchen Communities als etwas „angestaubt“ gilt, obwohl es meiner Meinung nach gerade aufgrund der aktuellen Durchbrüche in der KI-Forschung so relevant ist wie noch nie), habe ich es für mich selbst inzwischen mit der Überschrift „Geist und Computer“ versehen.

Schwerpunkte im Überblick

Nun ist dieses Feld natürlich ziemlich umfangreich, und gerade jemand wie ich, der ohnehin ständig dazu neigt, von Hölzchen auf Stöckchen zu kommen, muss sehr aufpassen, sich nicht rettungslos darin (und in interessant klingenden Nachbardisziplinen) zu verzetteln. Ich bin daher dieses Frühjahr mal in mich gegangen und habe mich gefragt, welche Fragestellungen für mich

  • im Mittelpunkt stehen, weil ich sie um ihrer selbst willen verstehen oder anwenden will,
  • eher Hilfsmittel sind, weil sie geistiges oder technisches Rüstzeug liefern, um die Hauptfragen bearbeiten zu können, oder
  • gar keinen wirklichen Bezug zum menschlichen Denken haben.

Dabei ist die folgende Übersicht über meine künftigen Arbeitsschwerpunkte entstanden:

Wie man sieht, geht es im Kern um Modelle des Denkens (also das Verstehen, wie Denken funktioniert) und Werkzeuge des Denkens (also um Techniken, mit denen wir besser darin werden können).

Was für den Leser vielleicht nicht sonderlich aufregend klingen mag, war für mich ein wichtiger Schritt – vor allem, weil es einigen Disziplinen, mit denen ich mich in den letzten Jahren teils ausgiebig beschäftigt habe (wie beispielsweise das Feld der Komplexen Systeme), künftig eine „dienende“ Rolle zuweist. Ich erhoffe mir von ihnen nützliche Grundlagen und Werkzeuge, will sie aber künftig nicht mehr um ihrer selbst willen studieren, sondern nur noch on demand mit einer klaren Aufgabenstellung vor Augen.

Modelle des Denkens

Aussagekraft von Modellen: Wenn man über Modelle des Denkens nachdenkt, muss man sich zuerst Gedanken darüber im Klaren sein, was ein Modell überhaupt ist. Ein entscheidender Punkt, der in der Öffentlichkeit und sogar in der Wissenschaft überraschend häufig vergessen wird, ist nämlich: Ein Modell ist per Definition eine Vereinfachung der Wirklichkeit. Jedes Modell trifft andere Annahmen, lässt bestimmte Komplexitäten weg und richtet den Scheinwerfer auf bestimmte Aspekte. Ein Modell ist daher auch niemals (!) richtig oder falsch – es erfüllt nur die Aufgabe, für die es erschaffen wurde, mal mehr und mal weniger gut. Wer etwas anderes behauptet, hat das Konzept eines Modells nicht verstanden, und läuft Gefahr, es mit einer absoluten Wahrheit zu verwechseln – ein Phänomen, das wir gesellschaftlich häufig erleben und das sich gefühlt in den letzten Jahren dank Social-Media-Filterblasen wieder verschlimmert hat bis hin zu einem quasi-religiösen Glauben an teils absurd simplistische Modelle.

Formale und technische Modelle des Denkens: Wenn wir uns das bewusst gemacht haben, wird auch klar, warum Wissenschaftler, die sich mit der Funktionsweise des Denkens beschäftigen, verschiedene Modelle für den gleichen Vorgang diskutieren. So gibt es neben den klassischen Modellen der Kognitionspsychologie, die sich auf das menschliche Gehirn beschränken, auch die eher technischen Modelle der Kognitionswissenschaft, in denen zumindest Teilaspekte des menschlichen Denkens in Form von Rechenmaschinen modelliert werden, um sie besser verstehen zu können (Computertheorie des Geistes). Natürlich werden diese voraussichtlich nie alle Aspekte des menschlichen Denkens, Fühlens oder Bewusstseins abbilden können – dafür ist das Gehirn als emergentes System viel zu komplex, und es kann wohl auch nicht unabhängig von Körper und Umwelt verstanden werden. Aber es gelingt doch immer wieder, aus dem technischen Modell Erkenntnisse über den menschlichen Geist zu gewinnen, von dem sie inspiriert sind.

Implementierung: Die momentan populärste technische Umsetzung solcher Modelle – die neuronale Netze – interessieren mich nicht um ihrer selbst willen, im Gegenteil: Obwohl ich nicht zur Fraktion der Technikpessimisten gehöre, sehe ich doch mit Sorge, wie mit rasender Geschwindigkeit eine Technologie verbessert wird, deren Disruptionspotential wir noch nicht einmal in Ansätzen verstehen. Wenn wir das Aufkommen von KIs auf Grundlage neuronaler Netze aber schon nicht verhindern können (und das werden wir nicht – es wäre die erste Technologie, die möglich wird und bei der sich dann die gesamte Menschheit darauf einigen würde, auf sie zu verzichten), dann sollten wir zumindest besser verstehen, was sie tut. Dieses Ziel hat sich das Teilgebiet der Explainable AI (XAI) gesteckt, und für mich ist es gleich aus zwei Gründen von Interesse: Zum einen, weil ich es für essentiell halte, dass wir das Innenleben einer Technologie, der wir bereits jetzt weitreichende Entscheidungen anvertrauen, wirklich verstehen. Und zum anderen, weil ich damit zumindest die Hoffnung verbinde, auch unser eigenes Denken besser verstehen zu lernen. Leider habe ich aber bereits feststellen müssen, dass es alles andere als leicht ist, hier noch den Anschluss an den Stand von Forschung und Entwicklung herzustellen – ob mir das im letzten Drittel meiner Berufstätigkeit noch gelingt?

Werkzeuge des Denkens

Problemlösendes Denken: Meine ursprüngliche Motivation beim Studium des „algorithmischen Denkens“ zielte ja darauf ab, das menschliche Problemlösen (insb. von neuen, komplexen Problemen) besser zu verstehen und auch darauf, Techniken zu finden, mit denen man es trainieren kann. Tatsächlich scheint dieses Wissensgebiet nach wie vor nicht sonderlich gut entwickelt zu sein: die gängigsten Modelle stammen aus den 1960er und 1970er Jahren, und Ratgeber „Wie löse ich komplexe Probleme“ finden sich bis heute nicht in den Regalen der (virtuellen) Buchhändler. Dabei dürfte diese Kompetenz mit dem Aufkommen von KIs künftig noch einmal stark an Bedeutung gewinnen, denn die Routineaufgaben, in die sich so viele Menschen dankbar zurückziehen, sobald sie ihre Ausbildung abgeschlossen haben, werden aller Voraussicht nach bald automatisiert werden.

Entscheidendes Denken: Wie schlecht unser Verständnis des problemlösenden Denkens entwickelt ist, kann man leicht erkennen, wenn man den Stand der Forschung mit dem zum entscheidenden Denken vergleicht. Hier gibt es einen sowohl deskriptiv („Wie Treffen Menschen Entscheidungen?“) als auch präskriptiv („Wie sollten sie Entscheidungen treffen?“) gut ausgebauten Kanon, der in den Fächern Entscheidungslehre und Spieltheorie unterrichtet wird, in hunderten Sach- und Fachbüchern beschrieben ist und in zahlreichen Anwendungsdisziplinen zum Einsatz kommt.

Lernen und Gedächtnis: Was das menschliche Lernen und Erinnern (und somit die Grundlagen für problemlösendes Denken) angeht, scheint die Situation kompliziert zu sein. Gerade die Neurowissenschaft hat hier u.a. dank verbesserter Messverfahren riesige Fortschritte gemacht, die aber von Teilen der Psychologie angezweifelt und von der Pädagogik weitgehend ignoriert werden. Als Außenstehender wird man das Gefühl nicht los, dass hier von ganzen Forschungscommunities in unverantwortlicher Form Besitzstände gewahrt werden, statt sich auf neue Erkenntnisse und Forschungsansätze einzulassen. Die bekannte These, dass sich neue Denkschulen erst durchsetzen können, wenn die Vertreter der alten Denkschulen verstorben sind, scheint sich hier zu bewahrheiten – mit der Folge, dass in Schulen und Universitäten kaum etwas von dem umgesetzt wird, was man eigentlich schon seit Jahrzehnten weiß.

Selbststeuerung: Zugegeben, dieses Thema scheint etwas abseits meines sonstigen Schwerpunkts des problemlösenden Denkens zu liegen. Ich habe aber eine ganze Reihe von Gründen, mich immer wieder damit zu beschäftigen – angefangen vom ganz persönlichen Kampf gegen schlechte und für gute Gewohnheiten über das Coaching von Studierenden bis hin zu eher philosophischen Fragen nach dem freien Willen. In jedem Fall beschäftige ich mich schon seit rund 30 Jahren mit Fragen der Selbststeuerung und beobachte mit Interesse, wie sich der Stand der Erkenntnis immer stärker weg von „Dann musst du dir halt mal einen Plan machen und ihn dann auch einhalten!“ und hin zu „Gewohnheiten sind erlerntes Verhalten, ändern kann man sie nur, indem man das neue Verhaltensmuster aktiv trainiert“ ändert. Und damit sind wir dann eben plötzlich doch ganz nah beim Thema „Lernen und Gedächtnis“…

Ausblick

Als ich diesen Blog gestartet habe, habe ich mir selbst versprochen, jeden Sonntag einen Beitrag hochzuladen. Im ersten Jahr hat das auch ganz gut geklappt, dann ist der Blog aber aus den im Januar beschriebenen Gründen ins Stottern geraten.

Dieses Versprechen des wöchentlichen Beitrags habe ich erneuert und hoffe daher, dass es ab jetzt wieder regelmäßiger etwas zu den oben aufgeführten Schwerpunktthemen zu lesen gibt. Ganz im Sinne des unter „Selbststeuerung“ Geschriebenen versuche ich hier also, für mich selbst eine gute Gewohnheit zu etablieren – und das gewissermaßen vor aller Augen…