In den vergangenen Beiträgen (zum Beispiel unter „Wer will wirklich Probleme lösen?„) habe ich ja bereits angedeutet, dass ich Zweifel habe an der Art, wie wir in Schulen und Hochschulen unterrichten. Da dieser Punkt noch wichtig wird, wenn es darum geht, wie man Algorithmik als Problemlösungstechnik lernen kann, möchte ich ihn heute einmal vertiefen.
Ein Bekenntnis
Ich oute mich an dieser Stelle mal und gebe zu, dass ich diese Zweifel schon als Kind und später als Student hatte. Nun war es nicht so, dass ich in Schule und Hochschule nicht zurecht gekommen wäre: ich war ein typischer Zweierschüler (und später ein Zweierazubi, ein Zweierstudent und irgendwann sogar ein Zweierdoktorand). Nicht überragend, aber ich hatte auch nie wirklich Probleme, mitzukommen. Abgesehen davon, dass ich zu keinem Zeitpunkt das Gefühl hatte, den Stoff wirklich verstanden zu haben, und dass nur sehr wenig davon langfristig in meinem Gedächtnis hängengeblieben ist.
Lange Zeit habe ich geglaubt, das läge an mir. Vielleicht war ich einfach zu perfektionistisch? Andere gute Schüler / Studierende schienen dieses Problem ja auch nicht zu haben. Es machte mich zwar etwas stutzig, dass ich alles, worin ich mich wirklich kompetent fühlte, eher außerhalb der Schule bzw. der Uni gelernt hatte (beispielsweise als Hobby oder im Nebenjob). Aber das lag – so redete ich mir ein – wahrscheinlich einfach daran, dass meine ADS mir nicht nur ein eher schlechtes Gedächtnis beschert, sondern auch dafür sorgt, dass ich nicht sonderlich gut damit zurechtkomme, stillzusitzen und zuzuhören, ohne selbst etwas tun zu können.
It’s not you… it’s the system!
Nun stehe ich aber schon seit Jahren auf der anderen Seite des (metaphorischen) Lehrpults, und mit jedem Jahr, das vergeht, wird das Gefühl stärker, dass es keineswegs nur mir so geht. Ich beobachte, dass auch die meisten Studierenden den Stoff nicht wirklich verstanden haben, und zwar auch dann nicht, wenn sie einen Kurs mit einer guten Note abschließen. Denn wenn man mal nachhakt, eine Verständnisfrage stellt oder gar ein halbes Jahr später nochmal nachfragt (beispielsweise, weil man etwas braucht, was im letzten Semester behandelt wurde), dann sind sie blank. Und zwar nicht einer oder zwei, sondern fast alle.
Und genau wie bei mir selbst habe ich den Eindruck, dass diejenigen Studierenden, die den Stoff wirklich drauf haben, diese Fähigkeit neben dem Studium erworben haben. Sie haben ein passendes Hobby, nehmen an freiwilligen Praxisveranstaltungen teil, gehen einem Nebenjob in der Branche nach oder haben eine relevante Berufsausbildung absolviert.
Wenn das nur in meinen Veranstaltungen so wäre, müsste ich mir ja die Frage stellen, ob es vielleicht einfach daran liegt, dass ich kein guter Dozent bin. Aber ich weiß, dass es bei den Veranstaltungen der Kollegen genauso aussieht – auch bei solchen Kollegen, von denen ich weiß, dass sie didaktisch sehr gut und persönlich sehr engagiert sind.
Natürlich mache ich mir so meine Gedanken, woran das liegen kann. Einige meiner Hauptverdächtigen nennt die folgende Liste:
- Stoffmenge: Der Stoffumfang der meisten Lehrveranstaltungen ist so bemessen, dass man alle 1-2 Wochen ein neues Thema behandeln muss. Für ein wirkliches, tiefes Verständnis ist das viel zu schnell: man müsste sich dem Thema eigentlich von verschiedenen Seiten nähern, Theorie und Praxis beleuchten und in Anwendungsszenarien damit arbeiten. In der gegebenen Zeit ist das schlicht nicht möglich.
- Interesse: Oft sind Studierende auch nicht wirklich intrinsisch für eine Veranstaltung motiviert. Dozenten bedauern oft, dass die Studierenden noch nicht soweit sind, die Bedeutung dieses oder jenes Faches für ihr künftiges Berufsleben zu schätzen. Ich habe aber den Verdacht, dass es oft umgekehrt ist: die Studierenden haben ein sehr viel besseres Gefühl dafür, was sie später wirklich brauchen werden, als ihre Dozenten. Um eine faire Antwort auf die Relevanzfrage zu bekommen, müsste man eigentlich eher erfolgreiche Praktiker als erfolgreiche Professoren fragen. Aber Hand aufs Herz: wer hat das für seinen Studiengang schon mal gemacht?
- Frontalunterricht: Die klassische Vorlesung ist ja eigentlich ein Relikt aus dem Mittelalter, als der Buchdruck noch nicht erfunden war und Professoren den Studenten daher Bücher vorlasen. Seltsamerweise hat sie sich auch in Zeiten erhalten, in denen jede Menge Alternativen (wie Bücher, Lernvideos oder interaktive Lehrformen) zur Verfügung stehen. Das wäre per se nicht schlimm, hätte die Vorlesung nicht einen entscheidenden Nachteil: Menschen lernen nur sehr, sehr schlecht, indem sie einfach jemandem zuhören. Und ja, inzwischen habe ich verstanden, dass das keinesfalls nur mir so geht…
- Prüfungen: In den meisten Lehrveranstaltungen ist die Klausur (typischerweise 60 oder 90 Minuten) die gängige Prüfungsform. Das macht es fast unmöglich, ein wirkliches Verständnis des Stoffes abzuprüfen; dafür reicht die Zeit einfach nicht aus. Stattdessen werden also Faktenwissen und kleine Beispiele abgefragt. Das, worum es eigentlich gehen müsste – die Fähigkeit, in echten Anwendungsszenarien mit dem gelernten Material zu arbeiten – findet hier keinen Platz. Und was in der Prüfung nicht drankommt, spielt natürlich auch in der Vorbereitung keine Rolle.
- Ausbildung der Dozenten: Au weia, ganz dünnes Eis, dabei sprechen die Studierenden das natürlich (wenn wir gerade nicht in der Nähe sind) in aller Deutlichkeit aus: Professoren sind in den meisten Fällen keine Praktiker. Um Professor zu werden, muss man promovieren, und allein das zeigt schon, dass der Weg zur Professur nur über die Theorie führt. Praxis ist in den meisten Fällen optional, und nur wenige schaffen den Spagat, wirklich beides zu beherrschen (und dann auch zu vermitteln).
Die Liste ließe sich verlängern, es handelt sich aber stets um strukturelle Gründe: Die Art, wie wir (teils aus Gewohnheit, teils aus Bequemlichkeit, teils aus Kostengründen) unterrichten, geht an den Erkenntnissen der Kognitionspsychologie vorbei und lehrt die Studierenden häufig auch nicht das, was wichtig wäre.
Problemlösungskompetenz unterrichten
Nun soll es in diesem Blog ja nicht um eine Generalabrechnung mit den Bildungssystemen der westlichen Welt gehen (auch wenn ich manchmal gute Lust dazu hätte, wenn ich an die unfassbare Menge von Lebenszeit und Energie junger Menschen denke, die da verschwendet wird). Ich bin aber davon überzeugt, dass das Wichtigste, was Studierende an einer Hochschule lernen, nicht ein gewaltiger Vorrat an Faktenwissen ist (das ja meist auch recht schnell veraltet) und auch nicht das Lösen von Übungsaufgaben, die im wirklichen Leben ohnehin schon längst der Computer für sie löst. Entscheidend sind meiner Meinung nach vielmehr Methodenkompetenzen wie kritisches Denken, Problemlösungskompetenz, Selbstmanagement, Selbststudium, Kommunikation, soziale Interaktion usw.
Und hier kehre ich dann endlich wieder zum Thema dieses Blogs zurück, denn meine Kernthese ist ja, dass die Algorithmik einen umfangreichen Werkzeugkasten zum Lösen von Problemen bereitstellt. Nur leider wird das Fach (wie so viele andere auch) eben oft nicht so unterrichtet, dass die Problemlösungskompetenz im Vordergrund steht (siehe „Meta-Algorithmik„): Der Schwerpunkt liegt allzu oft nur auf dem Erlernen bekannter Algorithmen und nicht darauf, neue Lösungsverfahren für neue Probleme zu finden.
Im letzten Wintersemester habe ich den Kurs „Algorithmen und Datenstrukturen“ stärker als bisher auf die Entwicklung genau dieser Problemlösungskompetenz ausgerichtet. Die Studierenden wurden bei jedem neuen Problem aufgefordert, dieses zunächst selbständig algorithmisch zu lösen, und die Lösungen wurden auch gleich dem Praxistest unterzogen, indem sie an Ort und Stelle implementiert wurden. Das Ziel war es, neues Faktenwissen, Methodenkompetenz und Praxisanwendung viel enger als bisher zu verzahnen. Zugleich gab es eine klare Ansage, dass in der Klausur weder Faktenwissen noch kleine Übungsaufgaben abgefragt würden – um zu bestehen, musste man in der Lage sein, selbständig Algorithmen zu entwickeln und zu implementieren.
Aufgrund der Corona-Einschränkungen musste konnte der Kurs dann leider doch nicht wie geplant als Live-Coaching in einem Rechnerpool stattfinden, sondern musste über weite Teile im Selbststudium anhand eines Skripts mit zahlreichen Trainingsaufgaben absolviert werden. Dennoch waren die Ergebnisse vielversprechend: Obwohl die Klausur sicherlich schwieriger war als in vergangenen Semestern, fiel sie deutlich besser aus. Vor allem aber waren die Teilnehmer besser als in früheren Jahren in der Lage, Lösungsalgorithmen für neue Probleme zu entwickeln.
Natürlich gäbe es auch die Möglichkeit, einen solchen Kurs komplett im Wege des problemorientierten Lernens zu unterrichten, und vielleicht probiere ich das auch eines Tages einmal aus. Aber im Augenblick bin ich mit der jetzigen Mischung aus Lernen und Ausprobieren, Theorie und Praxis ungewöhnlich zufrieden. Es steht zu hoffen, dass kommende Semester ohne Corona-Beschränkungen die Möglichkeit bieten, die Sicht der Studierenden auf das neue Lehrkonzept zu evaluieren. Und spätestens eine Vertiefungsveranstaltung im Hauptstudium wird zeigen, ob im Kurs auch bleibende Kompetenzen entwickelt wurden.